Annie Ernaux
Interview

Kritiker Scheck zu Ernaux "Ein literarischer Leitstern"

Stand: 06.10.2022 15:46 Uhr

Sie sei seine "Herzenskandidatin" für den Literaturnobelpreis gewesen - sagt der Kritiker Scheck im tagesschau-Interview über Annie Ernaux. Sie habe einen so schonungslosen wie persönlichen Stil und sei deshalb für viele junge Autorinnen und Autoren wichtig.

tagesschau.de: Herr Scheck, hat Sie die Auszeichnung für Annie Ernaux überrascht?

Denis Scheck: Nein, nicht wirklich. Ernaux wird seit einigen Jahren schon für den Literaturnobelpreis ziemlich hoch gehandelt. Und ich muss zugeben: Ich war beglückt, als ich diese Entscheidung hörte, denn sie ist meine Herzenskandidatin in diesem Jahr gewesen. Das liegt daran, dass sie sowohl ästhetisch wie auch politisch eine so ausgezeichnete, kluge Wahl der Schwedischen Akademie darstellt. Ihr Werk ist für so viele andere, jüngere Autoren ganz wichtig. Sie ist quasi ein ästhetischer, literarischer Leitstern für kommende Autoren.

Denis Scheck
Denis Scheck
Der gebürtige Stuttgarter ist einer der bekanntesten Literaturkritiker Deutschlands. Bereits im Alter von 13 Jahren gründete er eine literarische Agentur und schon mit 16 war er Ehrenstipendiat im Schriftstellerhaus in Stuttgart. Er übersetzte zahlreiche Bücher aus dem Englischen und verfasste zudem einige eigene Werke. Er moderiert zahlreiche Radio- sowie die Fernsehsendungen "Lesenswert" im SWR und "Druckfrisch" im Ersten und gewann bereits zahlreiche Auszeichnungen, wie den Deutschen Fernsehpreis oder den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis.

tagesschau.de: Warum ist Ernaux denn so wichtig für Sie persönlich und für die Literaturszene?

Scheck: Ich habe dieser Autorin einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen, in meinem Hirn und in meiner Bibliothek gegeben. Sie hat in ihrem Tagebuch mal geschrieben: "Ich habe nie etwas gewollt außer Liebe und Literatur." Und wenn ich mich in diesen zwei Sätzen nicht wiederfinde, dann weiß ich auch nicht.

Generell betrachtet hat sie einen wunderbaren Weg gefunden, von sich zu sprechen, insbesondere in diesem autobiografischen Roman "Die Jahre". Aber dennoch konnte sie die Nabelschau, das Kreisen um das eigene Ich dieser Literatur austreiben - indem sie die Ich-Form eben gerade vermied. Sie schrieb stattdessen "wir" oder "man". Also das führt dazu, dass man sich selber ein wenig hinterfragt, dass man sich nicht für den Mittelpunkt der Welt hält, sondern dass man das eigene Leben als Beispiel nimmt für eine soziologische Erfahrung. Und deshalb hat Annie Ernaux eben auch so viel mit der französischen Soziologie zu tun.

"Literarischer Leitstern für kommende Autoren", Literaturkritiker Denis Scheck über die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux

tagesschau24 14:00 Uhr

tagesschau.de: Wie würden sie denn ihren Stil beschreiben, der ja sehr eigen ist?

Scheck: Sie ist eine Autorin, die man wirklich in jedem Lebensalter lesen kann. Die kann man mit zwölf lesen, die kann man mit 92 lesen. Das ist diese berühmte Barrierefreiheit in der Literatur. Man muss wirklich kein Universitätsstudium absolviert haben, um das zu verstehen.

Aber ihre Literatur ist dennoch komplex, so komplex wie die Erfahrung unseres Lebens. Sie reduziert nicht diese Komplexität, insbesondere nicht in ihren ganz wunderbaren Schilderungen, was für Schneisen der Vernichtung Liebe in bürgerlichen Existenzen schlagen kann. Diese Art zu schreiben macht deutlich, dass man schonungslos gegenüber sich selbst sein kann - aber enorm rücksichtsvoll gegenüber dem Leser.

Ihr Stil ist mitunter schmerzhaft, weil sie auch von Ereignissen spricht, die buchstäblich unter die Haut gehen. Wenn sie zum Beispiel das Ereignis eines AIDS-Tests, den sie macht, nachdem sie Sex ohne Kondom hatte, zum Anlass nimmt, sich daran zu erinnern, dass sie schon einmal schwanger war - und das eine schreckliche Erfahrung war. Es geht nämlich um eine Zeit, die ist gerade mal 50, 60 Jahre her, als der französische Staat, alleine den Versuch herauszufinden, wie man einen Schwangerschaftsabbruch bekommen könnte, erstens für illegal erklärte und zweitens mitunter mit Gefängnis bestrafte.

tagesschau.de: Sie hat auch immer wieder politische heikle Themen angesprochen. Liegt das auch in ihrer Biografie begründet?

Scheck: Ernaux ist die große Autorin des Klassismus, das muss man ganz klar sagen. Sie ist 1940 geboren in der Normandie, ihre Eltern hatten einen Krämerladen und eine Kneipe dort und krebsten wirklich am unteren Existenzminimum rum. Und sie waren dann auch bedroht von den neuen Supermärkten, von den besseren Kneipen, die da eröffneten. Und wie sehr sich diese biografische Erfahrung dann später, als sie die Festanstellung als Lehrerin hatte, als sie in Paris Karriere auch als Autorin machte, in sie eingefressen hat - davon legen eigentlich alle Bücher von Ernaux beredtes Zeugnis ab.

"Eine Frau" beispielsweise, das große Buch über ihre Mutter, oder "Der Platz", das sind die Bücher, die enorm wirkungsmächtig wurden für andere Schriftsteller. Denken wir an heutige Autoren wie Didier Eribon oder andere, die über ihren Platz in der französischen Gesellschaft nachdenken, die überlegen, was Homosexualität für ein Ballast sein kann, um seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Und die beziehen sich eigentlich alle auf Annie Ernaux, die diese wunderbare Sprache gefunden hat und so uneitel über sich selber schreiben kann.

tagesschau.de: Ernaux ist jetzt 82 Jahre alt, das heißt, es hat gedauert, bis sie diesen Literaturnobelpreis bekommen hat. Sie haben Sie ja persönlich kennengelernt. Was für einen Eindruck hat sie auf Sie gemacht als Person?

Scheck: Ich durfte sie zusammen mit ihrer deutschen Übersetzerin Sonja Fink kennenlernen. Ernaux ist eine kleine, fragile Frau, die aber einen wunderbaren Schalk im Nacken hat, die auch in ihrem Alter durchaus ein erotisches Flair umgibt, die ein humoristisches Aufblitzen, ein Zwinkern im Auge hat und die sich vor nichts und niemanden fürchtet. Mit anderen Worten: Annie Ernaux ist etwa so, als dürfte man Pippi Langstrumpf kennenlernen - ich habe mich spontan in sie verliebt.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 06. Oktober 2022 um 14:00 Uhr.