Zelte stehen in einem Flüchtlingscamp in Tunesien.
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Migration nach Europa Ausgesetzt in der Wüste

Stand: 21.05.2024 09:32 Uhr

In Nordafrika verschleppen von der EU finanzierte Sicherheitskräfte Asylsuchende, die nach Europa wollen. Eine internationale Recherche zeigt ein System der Abschreckung von Migranten auf ihrem Weg nach Europa.

Von Philipp Grüll und Erik Häußler, BR

Es ist sein dritter Fluchtversuch nach Europa - und auch dieser scheitert. Doch als die tunesische Nationalgarde das Boot von Francois und rund drei Dutzend weiteren Flüchtlingen im September 2023 stoppt, ahnt der Mann aus Kamerun nicht, welcher Horror ihm diesmal bevorsteht.

Er und die anderen Flüchtlinge werden gefangen genommen, in Busse gezwungen, stundenlang verschleppt und ohne Wasser im Niemandsland an der Grenze zu Algerien ausgesetzt. Wer zurückkomme, werde umgebracht, hätten die tunesischen Sicherheitskräfte gedroht, erinnert sich Francois. Neun Tage irren sie umher, trinken Wasser aus Rinnsalen.

Die Odyssee, die Francois durchleben musste, hat er sorgfältig dokumentiert. Videos, Fotos und GPS-Daten stützen seine Schilderungen. 

Flüchtlinge sollen offenbar abgeschreckt werden

Dass es sich bei den Erlebnissen von Francois nicht um einen Einzelfall handelt, sondern ein System der Abschreckung von Migranten auf ihrem Weg nach Europa, zeigt eine rund einjährige gemeinsame Recherche des Bayerischen Rundfunks mit der Recherche-Organisation Lighthouse Reports, dem Spiegel und weiteren internationalen Medienpartnern.

Die Reporterinnen und Reporter haben Hunderte Videos ausgewertet und vertrauliche Dokumente gesichtet. Mehr als 50 Migrantinnen und Migranten haben ihnen geschildert, wie sie in den EU-Partnerländern Tunesien, Marokko und Mauretanien von Sicherheitskräften verschleppt wurden.

Journalistinnen und Journalisten sind für die Recherche in diese Länder gereist und haben selbst Festnahmen und Verschleppungen gefilmt.

Mehr als Hundert Millionen Euro für Tunesiens Grenzschutz

Alleine für Tunesien konnte das Rechercheteam 14 solcher Verschleppungsaktionen dokumentieren. Obwohl die Europäische Kommission und die EU-Mitgliedstaaten von dieser Praxis wissen, kooperieren sie eng mit der dortigen Regierung bei der Eindämmung der Migration.

Erst im vergangenen Sommer vereinbarten die EU und Tunesien ein entsprechendes Abkommen, das unter anderem Hilfen von 105 Millionen Euro allein für den Grenzschutz vorsieht. Obwohl die EU-Kommission von Abschiebungen in die Wüste weiß, wurde die Kooperation nicht infrage gestellt.  

Auch die Bundesregierung kooperiert eng mit Tunesiens Sicherheitsbehörden. Seit 2015 bilden deutsche Bundespolizisten Mitglieder von Grenzpolizei und Nationalgarde aus, außerdem liefert Deutschland Ausrüstung und Pickup-Fahrzeuge. Laut Bundesinnenministerium flossen bislang 31 Millionen Euro für Ausbildung und Ausrüstung nach Tunesien.

Mit den Ergebnissen der Recherche konfrontiert, antwortet das Bundesinnenministerium, man habe "die Verbringung von Geflüchteten und Migrantinnen und Migranten in das libysch-tunesische und algerisch-tunesische Grenzgebiet im Sommer 2023 mehrfach scharf und öffentlich kritisiert". Doch die Recherchen belegen, dass es seitdem immer wieder zu derartigen Aktionen kommt. 

Das deutsche Innenministerium teilte außerdem mit, man lege großen Wert darauf, dass die gelieferte Ausstattung "ausschließlich für den vorgesehenen Zweck" verwendet werde. Die Menschenrechte von Geflüchteten und Migranten seien zu respektieren, dies sei "auch regelmäßig Gegenstand unserer Gespräche mit der tunesischen Seite".

Verantwortliche Staaten sind EU-Partner bei Migrationskontrolle

Wie Tunesien zählen auch Marokko und Mauretanien zu den EU-Partnern zur Eindämmung der Migration aus Subsahara-Afrika. Erst im Februar reiste Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez nach Mauretanien. Die beiden versprachen dem Land rund eine halbe Milliarde Euro, auch zur Migrationskontrolle. Bundesinnenministerin Nancy Faeser verkündete im Januar eine engere Zusammenarbeit mit Marokko beim Thema Migration. 

In Marokko filmten Reporter, wie Sicherheitskräfte Migranten jagen, festnehmen und in Busse zwingen, um sie mehrere hundert Kilometer entfernt auszusetzen. In Mauretanien dokumentierten sie, wie Migranten auf Lastwagen in ein Gefängnis und dann in Bussen an die Grenze zu Mali transportiert werden - in ein Gebiet, in dem Terroristen aktiv sind. 

Spanische Beamte bekamen dort offenbar sogar Listen mit Namen von Migranten ausgehändigt, die später an der Grenze zu Mali zurückgelassen wurden. Fotos dieser Namenslisten liegen dem Bayerischen Rundfunk und seinen Recherchepartnern vor. In Videos von Festnahmen sind Fahrzeuge jener Modelle zu sehen, die den dortigen Sicherheitsbehörden von EU-Staaten geliefert wurden.

EU-Kommission: Menschenrechte müssen respektiert werden

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wollte sich auf Anfrage nicht äußern. Eine Sprecherin teilte mit, die EU erwarte von ihren Partnern, die Menschenrechte und die Menschenwürde aller Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchenden zu respektieren.

Für die Strafverfolgungsbehörden in den Partnerländern seien die dortigen Behörden zuständig. Die Regierungen Tunesiens, Marokkos und Mauretaniens weisen die Vorwürfe auf Anfrage zurück. 

Der Grünen-Europaabgeordnete Erik Marquardt kritisiert Abkommen wie jenes mit Tunesien als Symbolpolitik: "Man möchte den Eindruck von Handlungsfähigkeit erwecken, und moralische, menschenrechtliche Fragen spielen dabei eine sehr untergeordnete Rolle." Er appelliert auch an die Bundesregierung, zu der auch seine Partei gehört, stärker für eine menschenrechtsorientierte Asylpolitik einzutreten.

Der Migrationsforscher Gerald Knaus wirft der EU-Kommission Planlosigkeit vor: "Wenn wir nicht erklären, wie wir uns den Mechanismus vorstellen, der dazu führt, dass weniger Menschen in Boote steigen, und es der Fantasie dieser Sicherheitskräfte überlassen, dann kommen Menschenrechtsverletzungen dabei heraus." 

Mitarbeit: Klaas van Dijken, Nissim Gasteli und Andrei Popoviciu

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