Desinformation bei Facebook From Russia with Lies
Facebook kommt nicht gegen russische Desinformation an. Das zeigen Daten, die WDR, NDR und "Süddeutsche Zeitung" ausgewertet haben. Die Facebook-Whistleblowerin Haugen kritisiert die Maßnahmen des Konzerns als unzureichend.
Eine Vielzahl von Falschnachrichten, etwa über die Gräueltaten von Butscha, verbreiten sich auf Facebook rasant. Videos werden Tausende Male gesehen. Die Auswertung einer Stichprobe von Facebook-Seiten durch WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" (SZ), basierend auf einer Analyse der Organisation "Hate Aid" zeigt: Postings und Seiten, die die Gräueltaten in Zweifel ziehen, verzeichnen hohe Wachstumsraten und Views - ohne gelöscht oder als falsch markiert zu werden.
So werden dort die gezielten, massenhaften Tötungen von Zivilisten in dem Kiewer Vorort Butscha, die seit dem Rückzug der russischen Truppen am Wochenende bekannt geworden waren, zum Beispiel mit "Das inszenierte Blutbad von Butscha" oder "Die Lüge von Butscha" betitelt. Genannt werden vermeintliche Beweise, wie es sei "kein Blut an ukrainischen Autos" gefunden worden. Die Körper der zum Teil gefesselten Menschen hätten "keine Leichenstarre" aufgewiesen - oder es seien gleich gar keine Leichen gefunden worden, behaupten andere. Dabei wurde dies von Journalisten vor Ort, mittels Satellitenaufnahmen und Fact-Checking der angeblichen Beweis-Videos widerlegt.
Posts der russischen Botschaft nicht markiert
Was diese Seiten eint: Sie verbreiten das offizielle Narrativ Russlands. Auch die Facebookseite der russischen Botschaft in Deutschland, in der die Kriegsverbrechen als Inszenierung der ukrainischen Regierung bezeichnet werden, verzeichnet Tausende Interaktionen, die englischsprachige Version Hunderttausende.
Teils werden solche Postings, wie die der Botschaft, von Nutzern kommentiert: "Lügen, nichts als Lügen - schämen Sie sich", schreibt eine Nutzerin. "Ich bin entsetzt, dass Sie diesen Schwachsinn auch noch in Deutschland verbreiten dürfen", meint eine andere. Gelöscht oder markiert werden die Falschinformationen nicht.
Damit konfrontiert, verweist der Konzern auf seine Maßnahmen gegen Desinformation: Man habe nicht nur den Zugang zu RT und Sputnik in der gesamten EU eingeschränkt, sondern auch Inhalte russisch kontrollierter Medien sowie Beiträge mit Links zu staatlichen Websites herabgestuft und deren Herkunft gekennzeichnet.
Enorme Reichweiten
Die Facebookseite der russischen Botschaft ist nur einer von vielen Accounts, die relativ unbehelligt Desinformation verbreiten - seit Beginn des Angriffskriegs wachsen auch bei anderen einschlägigen Seiten die Reichweiten, ergaben Analysen von NDR, WDR und SZ. "Der Westen ist der wahre Aggressor" heißt es in einem Video auf einer anderen Seite, das etwa eine halbe Million Mal angesehen wurde. "Russland führt keinen Krieg" in einem weiteren, das 200.000 mal gesehen wurde. Auch Videos des Propagandasenders "Russia Today", der eigentlich von Facebook verbannt wurde, finden sich wieder. Von privaten Accounts neu hochgeladen, werden sie teils Hunderttausend Mal angeschaut - ohne Warnung vor Falschinformationen.
Zusätzlich wachsen viele kleinere Accounts aus dem verschwörungsideologischen Millieu plötzlich stark: Ein Beispiel ist die Facebookseite "Anonline". Sie wurde erst kurz nach Beginn des Kriegs gegründet. Einen Monat und 250 Pro-Kreml-Postings später folgen ihr Zehntausend Menschen. Insgesamt, so zeigt es die Analyse, wurden von "Anonline" gepostete Videos mehr als zwei Millionen Mal gesehen. Und Seiten wie diese gibt es viele. Ihre Followerzahlen verzehnfachten sich teils innerhalb einer Woche nach Kriegsbeginn.
Strengere Regulierung und mehr Transparenz
Obwohl die Gräueltaten der russischen Armee bereits durch unabhängige Journalisten vor Ort und etwa durch eine Analyse von Satellitendaten durch die "New York Times" verifiziert wurden, entfalten die Falschnachrichten ihre Wirkung, erklärt Philip Kreissel von der NGO "Hate Aid". Er beobachtet schon länger die Strategie der russischen Propagandisten: "Bei dem Zuschauer oder Zuhörer soll dann hängenbleiben, dass er gar nichts mehr glauben kann. Also dass es so etwas wie eine objektive Wahrheit gar nicht mehr gibt."
Die Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen weist zusätzlich auf ein grundsätzlicheres Problem hin: "Die Algorithmen geben den extremsten Positionen die größte Reichweite. Man kann das Absurdeste behaupten, aber weil Menschen damit interagieren, wird es weiter verbreitet. Wenn man allerdings etwas Ausgewogenes, Tiefgründiges schreibt, um die Lügen zu widerlegen, wird es nie die gleiche Menge an Menschen erreichen."
Haugen hat als Analystin selbst bei Facebook in der Abteilung "Counter Intelligence" gearbeitet und wirft der Plattform vor, das Problem mit Falschinformationen nicht in den Griff zu bekommen. Das Wachstum dieser Accounts sei oftmals auf Bots zurück zu führen, die die Post künstlich pushen und damit verbreiten, sagt sie. Sie fordert daher deutlich strengere Regulierung und mehr Transparenz von Social-Media-Plattformen. Doch: "Einen Desinformationsapparat, der in den vergangenen fünf Jahren gewachsen ist, kann man nicht in fünf Wochen abschalten", sagt Haugen.