Wegovy Kritik an Hype um Abnehmspritze
Der Präsident der Adipositas-Gesellschaft macht sich dafür stark, dass die Abnehmspritze von den Krankenkassen bezahlt wird. Nach Berechnungen der AOK könnte das Milliarden kosten. Nun warnen auch Ärzte vor dem Hype.
Als Jens Aberle, Präsident der Adipositas-Gesellschaft, im Februar dieses Jahres auf einer Pressekonferenz über die neue Abnehmspritze sprach, kannte seine Begeisterung kaum Grenzen. Die Spritze sei ein "Gamechanger", noch nie habe es Medikamente gegeben, "die auch nur in der Nähe der Effektivität waren, wie wir es jetzt erleben", sagte Aberle. Nebenwirkungen gebe es immer, aber diese seien "verhältnismäßig überschaubar".
Dutzende Medien in ganz Deutschland griffen die Schlagworte auf und übernahmen die Formulierung: die Abnehmspritze - ein "Gamechanger". Die Pressekonferenz war vom Science Media Center (SMC) veranstaltet worden.
"Keine ausdrücklichen Interessenkonflikte angegeben"
Was den Journalisten dort allerdings nicht mitgeteilt wurde war, dass Aberle Geld der Spritzenfirma Novo Nordisk erhält. Die anderen Experten auf der Pressekonferenz gaben Interessenkonflikte an - bei Aberle Fehlanzeige. SMC-Geschäftsführer Volker Stollorz bestätigt, dass die Veranstalter Aberle im Vorfeld nach den Geldern gefragt hatten, die er von Pharmafirmen erhält, doch "Herr Aberle hat uns gegenüber keine ausdrücklichen Interessenkonflikte angegeben".
Tatsächlich hat Aberle nach Recherchen von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" von den Pharmafirmen Novo Nordisk, Boehringer Ingelheim, Eli Lilly und AstraZeneca Geld erhalten - mal für Vorträge, mal für Beratung. Aberle, der hauptberuflich als Arzt am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf arbeitet, erklärt auf Anfrage, dass er "in diesem ganzen Hype" um die Abnehmspritze sehr häufig angefragt werde. "Da kann es sein, dass hier und da mal das vielleicht nicht angegeben wird, aber das war dann ein einmaliges Versäumnis."
Angefacht wurde der Hype um die neue Abnehmspritze in den USA. Der Milliardär Elon Musk hatte sich öffentlich dazu bekannt, dank der Spritze einige Kilos abgenommen zu haben. Und als Moderator Jimmy Kimmel im März die Oscar-Preisverleihung eröffnete, sagte er: "Alle sehen hier großartig aus. Wenn ich mich umsehe, frage ich mich: Ist Ozempic das Richtige für mich?"
Präparate sind verschreibungspflichtig
Ozempic enthält den gleichen Wirkstoff wie Wegovy, ist in Deutschland aber nur für Diabetiker zugelassen und wird auch nur für diese Nutzung von den Gesetzlichen Krankenkassen bezahlt. Beide Präparate sind verschreibungspflichtig.
Weil Wegovy, das lediglich als Abnehmpräparat zugelassen ist und das von den Versicherungen nicht übernommen wird, pro Milligramm des Wirkstoffes aber rund doppelt so teuer ist wie Ozempic, verlangen auch in Deutschland viele Übergewichtige nach dem günstigeren Ozempic, um damit abzunehmen. Die Folge ist eine enorme Lieferknappheit: Diabetiker müssen derzeit oft mehrere Apotheken abklappern, um an ihr gewohntes Medikament zu kommen.
Andreas Klinge, Diabetologe in Hamburg und Vorstandsmitglied der Arzneimittelkommisson der Deutschen Ärzteschaft, sagt, es vergehe bei ihm kein Tag mehr, an dem nicht mindestens vier oder fünf Patienten nach der Abnehmspritze verlangen. So einen Hype um ein Medikament habe er in zwanzig Jahren ärztlicher Tätigkeit noch nicht erlebt.
Wertvoller als VW, BMW und Mercedes zusammen
Der Hersteller von Ozempic und Wegovy, die dänische Firma Novo Nordisk, profitiert von der weltweiten Nachfrage. Der Börsenkurs ist allein im zurückliegenden Jahr um 70 Prozent geklettert. Mittlerweile ist Novo Nordisk mit einem Börsenwert von 315 Milliarden Euro die wertvollste Firma in ganz Europa - wertvoller als VW, BMW und Mercedes zusammen.
Und das Gute für Novo Nordisk aus unternehmerischer Sicht ist, dass Patienten die Spritze wohl ein Leben lang nehmen müssen. Eine entsprechende Studie hat die Firma selbst bei der Zulassung eingereicht: 900 Patientinnen und Patienten erhielten 20 Wochen lang die Abnehmspritze Wegovy.
Danach wurde die Gruppe per Zufallsgenerator in zwei Gruppen geteilt. Die eine Gruppe erhielt weiter das Abnehm-Präparat, die andere, ohne es zu wissen, eine Spritze ohne den Wirkstoff. Das Ergebnis: Die Wegoyv-Gruppe nahm im Schnitt um weitere acht Prozent ab, die Placebo-Gruppe nahm im Schnitt um sieben Prozent zu.
Muss man Wegovy für immer einnehmen?
"Nach allen Daten, die wir haben, muss man Wegovy für immer einnehmen", sagt auch Andreas Klinge von der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. "Wenn man die Spritze wieder absetzt, nehmen die Menschen das Gewicht auch wieder zu, das sie vorher abgenommen haben."
Mediziner wie Klinge, die seit Jahren keine Gelder von der Pharmaindustrie annehmen, sehen die neue Abnehmspritze auch kritischer als etwa Aberle. Wegovy sei zwar "deutlich besser als alle Medikamente, die wir bisher hatten zum Gewichtabnehmen", bilanziert Klinge. Aber es gebe eben auch häufige Nebenwirkungen.
Viele Patienten, die sie nehmen, litten unter Übelkeit, Durchfall oder auch Erbrechen. Zudem gebe es in Tierversuchen Hinweise auf Bauchspeicheldrüsen-Entzündungen und seltene Schilddrüsen-Tumore.
Im März hat Aberle unter seinem Namen einen großen Artikel über die Spritze in der "Bild am Sonntag" veröffentlicht. Darin fordert er, dass die Krankenkassen die Behandlungskosten übernehmen. Denn diese dürfen bisher laut Sozialgesetz weder Potenzpillen noch Medikamente zur Gewichtsreduktion bezahlen. Aberle schreibt in "Bild am Sonntag" (Axel-Springer-Verlag): "Die Kostenübernahme ist wichtig, denn viele Betroffene können sich eine dauerhafte Therapie mit den neuen Mitteln nicht leisten."
Von Aberles Interessenkonflikten ist auch an dieser Stelle nichts zu lesen. Manja Dannenberg, Vorstand der Ärzte-Initiative MEZIS (Abkürzung für "Mein Essen Zahl Ich Selbst"), kritisiert im Gespräch mit Panorama, dass nicht nur Aberle selbst, sondern auch seine Adipositas Gesellschaft finanziell von Novo Nordisk abhängig seien.
Allein 2022 145.000 Euro von Novo Nordisk
Aberles Fachgesellschaft erhielt nach eigenen Angaben allein im vergangenen Jahr 145.000 Euro von Novo Nordisk - dagegen nur 80.000 Euro durch Mitgliedsbeiträge. MEZIS-Ärztin Dannenberg sagt: "Als Präsident der Adipositas-Gesellschaft tritt Herr Aberle als Experte auf. Und wenn man sich die Hintergründe anschaut, dann weiß man, dass er selbst regelmäßig für die herstellende Firma Novo Nordisk Vorträge hält oder auch als Berater tätig ist."
Auf Anfrage teilt der Axel-Springer-Verlag mit, dass ihnen der Interessenkonflikt "aufgrund seiner Funktion bei Novo Nordisk nicht bewusst" gewesen sei. "Wäre er uns bewusst gewesen, hätten wir für dieses Thema nach einem anderen Experten gesucht."
Als adipös gelten Menschen ab einem Body-Mass-Index (BMI) von 30. Die AOK geht von rund 19 Prozent der erwachsenen Bevölkerung aus, die adipös sind. Würden alle die Wegovy-Spritze erhalten und orientiert man sich am derzeitigen Preis von knapp 4.000 Euro pro Jahr pro Patient, kommt die AOK auf mögliche Ausgaben von 52,3 Milliarden Euro.
Das wäre mehr als die bisherigen Gesamtausgaben für alle Medikamente in der gesetzlichen Krankenversicherung zusammen. Diese lagen im vergangenen Jahr bei 48,8 Milliarden Euro. Aberle selbst sagt auf Nachfrage, es sei "völlig klar", dass die Kassen die Spritze nicht für alle adipösen Menschen bezahlen könnten. Man müsse eine Gruppe definieren, die davon in besonderem Maße profitiere.
In den USA müssen Pharmakonzerne jedes Jahr veröffentlichen, an welchen Arzt sie wie viele Dollar gezahlt haben. Die Regierung von Präsident Barack Obama hatte diese Transparenz im Jahr 2010 im sogenannten "Sunshine Act" eingeführt.
Angaben in Europa freiwillig
In Europa sind solche Angaben freiwillig. Manche Mitglieder im Vorstand der Adipositas Gesellschaft kommen ihr dennoch nach. So erfährt man etwa, dass ein anderes Vorstandsmitglied der Gesellschaft im vergangenen Jahr 39.000 Euro von Novo Nordisk erhalten hat.
Jens Aberles Namen sucht man auf diesen Transparenzlisten vergeblich. Er hat weder Novo Nordisk noch Boehringer Ingelheim, AstraZeneca oder Eli Lilly in den vergangenen Jahren erlaubt, die an ihn erfolgten Zahlungen zu veröffentlichen. Aberle sagt, es seien nur "unerhebliche Summen" gewesen, "deutlich weniger" als bei seinem Kollegen aus dem Vorstand der Adipositas-Gesellschaft. Die Zahlungen nicht zu veröffentlichen sei eine persönliche Entscheidung.
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