Ungleiche Chancen auf Entschädigung Wie der Staat mit Gewaltopfern umgeht
Gewaltopfer haben deutschlandweit unterschiedlich gute Chancen auf Anerkennung ihrer Entschädigungsanträge. Laut einer BR-Umfrage fehlen in Ämtern einheitliche Entscheidungskriterien und Standards im Umgang mit traumatisierten Menschen.
Wer Opfer vorsätzlicher Gewalt geworden ist, dessen Leben ist nach der Tat nicht mehr wie es war. Betroffene können einen Antrag auf Opferentschädigung bei den zuständigen Versorgungsämtern stellen. Doch ob dieser bewilligt wird, ist keinesfalls sicher - und die Chancen sind je nach Bundesland sehr unterschiedlich.
Nur wenige erhalten Leistung wirklich
Im Antragsverfahrens müssen detaillierte Angaben zur Tat und den daraus resultierenden Gesundheitsschäden gemacht werden. Erkennt das Amt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Tat und Schädigung an, haben Gewaltopfer unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf Entschädigung. So regelt es das Opferentschädigungsgesetz (OEG) - in der Theorie. "Es geht um die Frage, wer überhaupt eine Chance hat, an diese besonderen Leistungen auch heranzukommen", sagt Kerstin Claus, die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung. In der Praxis werde das für Betroffene oftmals sehr schwierig.
Das zeigt auch eine BR-Umfrage bei allen Bundesländern. Im vergangenen Jahr wurden nach deren Angaben deutschlandweit etwas mehr als 10.000 OEG-Anträge entschieden - also entweder abgelehnt oder bewilligt. Knapp 60 Prozent der Entscheidungen waren Ablehnungen.
In Bayern beispielsweise wurden im vergangenen Jahr 383 OEG-Anträge bewilligt, abgelehnt wurden im gleichen Jahr 529 Anträge, also knapp 60 Prozent der Entscheidungen waren negativ. Nur in Hessen und Sachsen wurden mehr Anträge bewilligt als abgelehnt. Dort sind die Chancen auf eine Entschädigung für Gewaltopfer statistisch gesehen deutlich höher. In Sachsen waren im vergangenen Jahr fast 80 Prozent der Entscheidungen nach offiziellen Angaben positiv.
Experten fordern einheitliche Praxis
"Das Problem ist, wie die jeweiligen Bundesländer das Opferentschädigungsgesetz umsetzen", sagt Jörg Fegert, ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum in Ulm. "Ein gutes Bundesgesetz müsste eine individuelle Praxis pro Land verhindern", sagt Jörg Fegert. Betroffene, die beispielsweise umziehen, erlebten, dass in den Bundesländern unterschiedlich mit der Thematik verfahren werde. Er mache sich deshalb für einheitliche Fortbildungen auf Bundesebene stark.
Warum OEG-Anträge abgelehnt werden, werde von Behörden statistisch nicht erfasst, heißt es auf BR-Anfrage. Bayern teilt mit, erfahrungsgemäß gehöre zu den häufigsten Ablehnungsgründen, dass der Zusammenhang zwischen der Tat und den vorliegenden Gesundheitsstörungen nicht bewiesen werden könne.
Ein weiterer häufiger Grund für eine Antragsablehnung sei, dass die Taten nicht nachgewiesen werden können. Laut Experten trifft das auf die Betroffenengruppe sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend besonders zu, weil für es für diese Taten nur selten Zeugen gibt.
Inoffizieller Ablehnungsgrund
Ein weiterer Ablehnungsgrund für eine Opferentschädigung kann der sogenannte "Milieuschaden" sein. Dieses Wort steht so in keinem Gesetz, aber sowohl Opferverbände als auch einige Behörden kennen diesen Begriff laut BR-Umfrage. Betroffene Menschen aus schwierigen familiären Verhältnissen, die oftmals Gewalt und Vernachlässigung erleben, hätten das Problem, sagt Kerstin Claus, dass nicht eindeutig zuzuordnen sei, woher der aktuelle "Schaden" genau komme. "Diese Menschen haben per se häufig deutlich schlechtere Chancen, eine Entschädigung zu bekommen, allein weil Depressionen, Suchterkrankungen oder Bildungsabbrüche oft nicht als Folgen der Tat angesehen werden."
Das Sozialministerium in Nordrhein-Westfalen schreibt, der Begriff sei "ethisch unangemessen". Das Konzept des sogenannten "Milieuschadens" als Ablehnungsgrund sei "dringend überprüfungsbedürftig". Und trotzdem: Auch in Nordrhein-Westfalen wird in einem Ablehnungsbescheid, der dem BR vorliegt, genau so argumentiert.
Standards im Umgang mit Betroffenen fehlen
Zudem fehlen einheitliche Standards im Umgang mit den Gewaltopfern. Sind Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter von OEG-Anträgen speziell im Umgang mit traumatisierten Menschen geschult, fragt der BR bei den zuständigen Versorgungsämtern nach. Die Antworten fallen sehr unterschiedlich aus: In Bayern sieht man in dieser Hinsicht keinen Bedarf. "Direkter persönlicher Kontakt, der über das schriftlich hinausgeht, ist sehr selten", sagt Thomas Kerner vom bayerischen Sozialministerium.
Auch in Hamburg sieht man den Schwerpunkt der Arbeit im juristischen Bereich. Aus dem hessischen Sozialministerium heißt es dagegen, die Betroffenen seien oft schwer traumatisiert und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter daher im sensiblen Umgang mit Gewaltopfern geschult. Nordrhein-Westfalen antwortet ebenfalls auf BR-Anfrage, mehrere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seien entsprechend geschult.
Bundesministerien weisen Verantwortung zurück
Die Durchführung der Sozialen Entschädigung und damit auch des Opferentschädigungsgesetzes obliege allein den Ländern, die diese Aufgabe in eigener Verantwortung wahrnehmen, schreibt das zuständige Bundesarbeits- und Sozialministerium auf Anfrage. Die Länder führten das Opferentschädigungsgesetz "als eigene Angelegenheit durch". Jedoch weise das Ministerium durch jährliche Veranstaltungen auf die "Wichtigkeit opfersensibler Verfahren" und auf eine "bundeseinheitliche Gesetzesanwendung" hin.
Ab dem ersten Januar 2024 wird das Opferentschädigungsgesetz novelliert und die verschiedenen Regelungen im Sozialgesetzbuch XIV zusammengefasst. Neu ist beispielsweise, dass ab 2024 auch Opfer psychischer Gewalt sowie schweren Stalkings eine Entschädigung beantragen können. Außerdem werden künftig sogenannte Fallmanagerinnen den Antragsprozess beratend begleiten. Alles in allem sehen Experten aber vor allem formale Fortschritte. Was die Länge der Verfahren, die Kompetenz der Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter angeht, bestehen die Probleme laut Experten weiter.