Anstieg bei Delikten 2022 "Zuhause ist mehr Gewalt eingezogen"
In Deutschland sind 2022 deutlich mehr Fälle von häuslicher Gewalt registriert worden. Laut "Welt am Sonntag" gab es bundesweit fast 180.000 Opfer - 9,3 Prozent mehr als im Vorjahr. Zu einer weit höher geschätzten Dunkelziffer ist eine Studie in Arbeit.
Die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt in Deutschland hat einem Bericht zufolge im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. Wie die "Welt am Sonntag" unter Berufung auf die Innenministerien und Kriminalämter der 16 Bundesländer schreibt, wurden bundesweit 179.179 Opfer polizeilich registriert. Das entspreche einem Anstieg von 9,3 Prozent gegenüber dem Pandemie-Jahr 2021.
Als Täter werden dem Bericht zufolge Partner, Ex-Partner und Familienangehörige erfasst. Zwei Drittel der Opfer seien Frauen. Die Dunkelziffer sei hoch, weil sich viele nicht trauten, Anzeige zu erstatten.
Stärkster Anstieg im Saarland
Beim Vergleich der Bundesländer verzeichnet das Saarland demnach mit 19,7 Prozent (3178 Opfer) den stärksten Zuwachs. Dahinter kämen Thüringen (plus 18,1 Prozent, 3812 Opfer) und Baden-Württemberg (plus 13,1 Prozent, 14.969 Opfer). Insgesamt hätten 15 Bundesländer deutlich mehr Opfer gemeldet. Die Zahl sei nur in Bremen gesunken (minus 13,6 Prozent, 2615 Opfer).
Nordrhein-Westfalen weise 37.141 Opfer (plus 8,5 Prozent) aus, berichtet die Zeitung weiter. Auffällig sei, dass im bevölkerungsreichsten Bundesland die Zahl der Körperverletzungen bei häuslicher Gewalt im Fünf-Jahres-Vergleich um 26,2 Prozent gestiegen ist.
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) sagte dazu: "Die Zündschnur ist bei vielen Menschen kürzer geworden und der allgemeine Ton rauer. Das gesellschaftliche Klima hat sich verändert." Dies mache auch an den Haustüren nicht Halt. "Zuhause ist mehr Gewalt eingezogen."
Lagebild wird im Juli vorgestellt
Die Daten der Länder fließen laut "Welt am Sonntag" in ein Lagebild ein, das vom Bundeskriminalamt (BKA) erstmals erstellt und am 3. Juli von BKA-Präsident Holger Münch, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Familienministerin Lisa Paus (Grüne) in Berlin vorgestellt wird. Zudem sei derzeit eine große sogenannte Dunkelfeldstudie in Arbeit.
Paus sagte dem Blatt: "Häusliche Gewalt geschieht oftmals im verdeckten, im privaten Bereich. Scham- und Schuldgefühle der Betroffenen führen häufig dazu, dass die Taten im Dunkeln bleiben und nur selten polizeilich angezeigt werden. Dieses Dunkelfeld ist ungleich größer als das Hellfeld."
Bundesfamilienministerin Lisa Paus plant eine staatliche Koordinierungsstelle, die häusliche Gewalt ressortübergreifend bekämpfen soll.
Frauenhäuser sollen gestärkt werden
Die Grünen-Politikerin plant dem Bericht zufolge eine staatliche Koordinierungsstelle, die häusliche Gewalt ressortübergreifend bekämpfen soll. Bereits zuvor hatte Paus angekündigt, den Schutz für Frauen vor Gewalt bis spätestens 2025 gesetzlich verbessern zu wollen. Es gehe darum, dass es am Ende mehr Frauenhäuser und mehr Beratungsstellen gebe, sagte sie nach der Konferenz der Gleichstellungs- und Frauenministerinnen und -minister von Bund und Ländern in Potsdam. Dazu sei ein Gesetz geplant. Paus betonte, der Bund werde finanziell "seinen Beitrag leisten".
Bundesweit gibt es derzeit rund 400 Frauenhäuser, rund 100 Schutzwohnungen und mehr als 750 Beratungsstellen. Die Frauenhäuser und Beratungsstellen sind bisher Sache von Ländern und Kommunen, mit den Gesetzesplänen ist der Bund nun mit eingestiegen. Das Angebot und die Nachfrage sind sehr unterschiedlich, es gibt kein flächendeckendes Netz.
Jede vierte Frau in Deutschland erfährt Paus' Angaben zufolge mindestens einmal in ihrem Leben körperliche oder sexualisierte Gewalt durch ihren Partner oder ehemaligen Partner. Statistisch versuche an jedem Tag ein Partner oder Ex-Partner, seine Frau umzubringen, an jedem dritten Tag gelinge ihm das. Zwei Drittel der weiblichen Opfer gingen auch nach schwerster Gewalt nicht zur Polizei oder suchten anderweitig Hilfe.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser sieht häusliche Gewalt nicht als Privatsache, sondern als gravierendes gesellschaftsliches Problem.
"Wir müssen sie stärken, die Taten anzuzeigen"
Faeser appellierte an Opfer häuslicher Gewalt, die Taten häufiger anzuzeigen. "Es ist unerträglich, wenn Betroffene von häuslicher Gewalt aus Scham schweigen. Wir müssen sie stärken, die Taten anzuzeigen, damit mehr Täter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können", sagte Faeser. Es sei ein "furchtbarer Gedanke, dass das eigene Zuhause zu einem Ort des Schreckens werden kann. Gewalt in den eigenen vier Wänden betrifft viele Frauen, aber auch Kinder und Pflegebedürftige".
Die Ministerin forderte mehr Kontrollen der Polizei, wenn diese Täter nach gewaltsamen Übergriffen aus der Wohnung verwiesen hat. "Das muss konsequent kontrolliert werden, damit Täter nicht schnell wieder zurückkehren", sagte Faeser. Häusliche Gewalt sei keine Privatsache, sondern ein gravierendes gesellschaftliches Problem. "Gewalt fängt nicht erst mit Schlägen oder Misshandlungen an: Es geht auch um Stalking und Psychoterror."
Pandemie als "Brandbeschleuniger"?
Die Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes, Eva Maria Welskop-Deffaa, macht Nachwirkungen der Corona-Pandemie für den Anstieg der Gewalt verantwortlich. "Offenkundig hat die angespannte Lebenssituation der Corona-Jahre sich in erhöhter familiärer Gewaltbereitschaft niedergeschlagen", sagte sie der Zeitung. Finanzielle und gesundheitliche Sorgen, räumliche Enge und Unsicherheit über die Zukunft hätten "als eine Art Brandbeschleuniger für Gewalt in Partnerschaft und Familie gewirkt".
Maria Loheide, Vorständin Sozialpolitik bei der Diakonie, nannte die Zunahme bei den Gewaltopfern erschreckend. "Ein Grund für den Anstieg könnte sein, dass das Bewusstsein für häusliche Gewalt insgesamt gestiegen ist und nach den unsicheren Jahren der Pandemie Frauen jetzt eher Fälle von Gewalt anzeigen", sagte sie der Zeitung.