Häusliche Gewalt Brandbeschleuniger Corona
In der Corona-Pandemie ist die Zahl der Hilfs-Beratungen bei häuslicher Gewalt angestiegen. Doch noch immer werden die meisten Fälle gar nicht angezeigt.
Das Faxgerät ist der wichtigste Gegenstand in der Beratungs- und Interventionsstelle für Opfer häuslicher Gewalt in Saarbrücken. "Die Polizei leitet uns nach einem Einsatz die Kontaktdaten der Betroffenen weiter. Wenn diese einverstanden sind, und wir rufen sie an", erklärt die Leiterin Christine Theisen.
Im Jahr 2021 konnten sie und ihre Kollegin 774 Betroffene beraten, im ersten Jahr der Pandemie waren es sogar 796 Fälle - eine deutliche Steigerung im Vergleich zu 2019. Da waren es noch rund 100 Fälle weniger.
Erschwerte Bedingungen, um sich Hilfe zu suchen
"Corona war wie ein Brandbeschleuniger", sagt Theisens Kollegin Corinna Rebmann. Die Pandemie habe für hohen Druck in vielen Familien gesorgt, gerade während des ersten Lockdowns, als jeder Kontakte reduzieren musste und zu Hause regelrecht festsaß. Sie erzählt von einem Fall: Ein Lehrerehepaar hat von zu Hause aus gearbeitet.
Auch ihre beiden Kinder im Grundschulalter waren im Homeschooling. Die Frau hatte ihren Mann schon vor Corona immer mal aggressiv erlebt, doch dann warf er Möbel und andere Gegenstände durch das Haus. "Eine Gefahr für die Kinder und die Frau", sagt Rebmann.
Neben den wachsenden finanziellen Sorgen und dem Isoliertsein wurde es für Betroffene immer schwieriger, sich Hilfe zu suchen. Denn Psychotherapiepraxen waren geschlossen. Aus Angst, sich mit Corona zu infizieren, wollten viele nicht in ein Frauenhaus, erklärt die Beraterin. Mehr als 90 Prozent der Betroffenen, mit denen Theisen und Rebmann in Kontakt kommen, sind Frauen.
Corinna Rebmann (links) und Christine Theisen von der Beratungs- und Interventionsstelle für Opfer häuslicher Gewalt in Saarbrücken: Hunderte Betroffene im Jahr
Gewalt hat durch Corona zugenommen
Auch das bundesweite Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" verzeichnete im vergangenen Jahr einen Anstieg von rund fünf Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In mehr als der Hälfte aller Fälle ging es um häusliche Gewalt. Bei der Vorstellung des Jahresberichts Ende Juni erklärte die Leiterin des Hilfetelefons, Petra Söchting: "In den Gesprächen zeigt sich, dass Corona-bedingte Beschränkungen und Belastungen nicht die Ursache für häusliche Gewalt sind. Aber sie erhöhen das Risiko, dass konflikthafte Situationen eskalieren, Gewalt zunimmt und Übergriffe häufiger und massiver werden."
Wenige Männer betroffen
Auch wenn hauptsächlich Frauen zur Beratungs- und Interventionsstelle kommen, suchen auch Männer nach Hilfe. "Sie erleben oft psychische Gewalt, werden von ihrer Partnerin gedemütigt oder beleidigt, aber auch physische. Dabei ist ihre Situation im Vergleich zu der von Gewalt betroffenen Frauen aber meistens nicht lebensbedrohlich", sagt Theisen.
Wie sich die Situation betroffener Männer im Vergleich zu vor der Pandemie entwickelt hat, kann das Hilfetelefon "Gewalt gegen Männer" nicht aufschlüsseln. Es wurde erst Ende April 2020 gegründet und ist als Kooperation zwischen den Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Bayern gestartet.
Im zweiten Pandemiejahr gab es aber auch hier mehr Kontaktaufnahmen. Das sei vor allem zurückzuführen auf einen neuen, weiteren Träger aus Baden-Württemberg, sagt ein Sprecher des zuständigen Ministeriums in Nordrhein-Westfalen.
Hohes Dunkelfeld
Laut Polizeikriminalstatistik nahmen bundesweit die Fälle von häuslicher Gewalt im Jahr 2020 zu. Im Saarland waren sie leicht rückläufig, auch im darauffolgenden Jahr. Bei der saarländischen Beratungs- und Interventionsstelle stieg die Zahl der Beratungen jedoch. Wie ist das zu erklären? "Etwa ein Viertel der betroffenen Frauen haben sich von sich aus bei uns gemeldet, bei ihnen gab es also keine Kontaktaufnahme durch die Polizei. Viele waren froh, einfach über ihre Situation reden und eine Last loswerden zu können", erklärt Theisen.
Aus dem saarländischen Landespolizeipräsidium heißt es außerdem: "Bei den Straftaten im Bereich häuslicher Gewalt ist von einem hohen Dunkelfeld auszugehen. Noch immer werden etwa 85 Prozent der Straftaten in diesem Bereich nicht oder aber auch erst Monate oder Jahre später angezeigt." Belastbare Erkenntnisse, warum genau die Zahlen entgegen der Annahme zurückgehen, gebe es jedoch keine.
Individuelle Hilfsangebote
Zahlen für das Jahr 2022 liegen erst im kommenden Jahr vor. Dennoch stellen Theisen und Rebmann schon jetzt wieder einen leichten Anstieg fest. "Corona ist nach wie vor präsent, wenn auch im Hintergrund. Und es kommen weitere Faktoren hinzu wie die Inflation oder die gestiegenen Energiekosten", sagt Theisen.
Egal was die Ursache für die häusliche Gewalt ist: Die beiden Beraterinnen wollen Betroffene ermutigen, sich Hilfe zu holen. Denn für jede und jeden gebe es individuelle Perspektiven - und das Recht auf ein Leben ohne Gewalt.