Kritik am Stand der Inklusion "Das finde ich inakzeptabel"
"Eine Demokratie ist nur gut, wenn sie inklusiv ist", meint der Behindertenbeauftragte Dusel im tagesschau.de-Interview. Dass viele nach zehn Jahren UN-Behindertenrechtskonvention nicht wählen dürfen, passt da nicht.
tagesschau.de: Vor zehn Jahren hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Welche Zwischenbilanz ziehen Sie?
Jürgen Dusel: Ich finde, dass das Thema Teilhabe von Menschen mit Behinderung in den vergangenen zehn Jahren durchaus Rückenwind bekommen hat. Ein paar Etappen sind wir auf dem Weg hin zu einer inklusiven Gesellschaft schon gegangen, aber wir sind natürlich noch lange nicht am Ziel.
Jürgen Dusel ist seit 9. Mai 2018 Behindertenbeauftragter der Bundesregierung. Zuvor hatte er dieses Amt in Brandenburg inne. Der Jurist ist seit seiner Geburt schwer sehbehindert.
tagesschau.de: Wo genau sehen Sie Fortschritte?
Dusel: Das Thema Inklusion ist mehr ins Bewusstsein vieler gerückt, weil mehr darüber informiert wird. Vor zehn Jahren konnte so mancher damit noch nicht viel anfangen.
Ich bedauere allerdings, dass das Thema Inklusion in der öffentlichen Wahrnehmung bislang stark auf den Bildungsbereich beschränkt ist. Der ist sehr wichtig, keine Frage. Aber von den etwa 13 Millionen Menschen mit Behinderung in Deutschland wurden nur etwa vier Prozent mit einer Behinderung geboren. Der Großteil hat die Behinderung erst nach der Schulzeit erworben. Für diese Menschen sind andere Themen wichtig: Behalte ich meine Arbeit? Kann ich meinen Arzt frei wählen? Kann ich eine Wohnung finden, die bezahlbar und barrierefrei ist. Komme ich ins Museum, in die Kneipe, in den Urlaub? Inklusion ist ein Querschnittsthema, das alle Lebensbereiche betrifft.
Inklusion beschränkt sich in der öffentlichen Wahrnehmung auf den Bildungsbereich, sagt der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung.
"Es gibt immer noch viele Vorurteile"
tagesschau.de: Wo sehen Sie den größten Nachholbedarf?
Dusel: Beim Thema Teilhabe am Arbeitsleben stellen wir beispielsweise fest, dass in Deutschland Menschen mit schweren Behinderungen deutlich häufiger und auch länger arbeitslos sind. 2017 hatten wir eine Arbeitslosenquote von siebeneinhalb Prozent bei Menschen ohne Behinderungen und von über elf Prozent bei Menschen mit Behinderungen.
Das heißt, wir haben Schwierigkeiten, Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber davon zu überzeugen, Menschen mit Behinderungen eine Chance zu geben. Da gibt es immer noch Vorurteile, sie seien eher krank, nicht so leistungsfähig, man könne sie nicht kündigen.
tagesschau.de: Wie kann man das überwinden?
Dusel: Einerseits durch Austausch und Kontakt. Ich selbst bin seit meiner Geburt fast blind und habe mein Abitur auf einer sogenannten Regelschule gemacht. Und meine Mitschüler haben erlebt, dass man mit mir vielleicht nicht so gut Fußball spielen kann, aber dass ich eben andere Kompetenzen habe. Die hätten heute sicher kein Problem jemanden mit Behinderung einzustellen.
Andererseits sehe ich die Bundesrepublik Deutschland in der Pflicht, Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention, das Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben, auch umzusetzen. Aber ein Viertel aller beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber stellen keinen einzigen Menschen mit Behinderung ein. Das finde ich inakzeptabel.
"Abgabe für Arbeitgeber muss deutlich erhöht werden"
tagesschau.de: Was meinen Sie damit?
Dusel: Jeder Arbeitgeber, der mehr als 20 Arbeitsplätze hat, muss mindestens fünf Prozent dieser Stellen mit Menschen mit Behinderung besetzen. Weil wir eben nicht einfach nur in einer Marktwirtschaft leben, sondern in einer sozialen Marktwirtschaft. In Artikel 14 des Grundgesetzes steht, dass Eigentum verpflichtet. Arbeitgeber, die ihrer Pflicht nicht nachkommen, müssen eine Ausgleichsabgabe zahlen. Die kommt dann wiederum Unternehmen zugute, die Menschen mit Behinderungen beschäftigen und beispielsweise dafür umbauen müssen. Ich finde, für Unternehmen, die keinen einzigen Angestellten mit Behinderung beschäftigen, müsste die Abgabe deutlich erhöht werden.
"Barrierefreiheit muss zum Qualitätsstandard werden"
tagesschau.de: Wo müsste man noch ansetzen?
Dusel: Ein Thema ist Barrierefreiheit. Ich wünsche mir, dass das nicht immer so negativ diskutiert wird. Wir sollten das als grundsätzlichen Qualitätsstandard begreifen: Wenn wir bauen, dann sollte das natürlich barrierefrei passieren. Was für Rollstuhlfahrer gut ist, hilft auch Eltern mit Kinderwagen oder alten Menschen. Wenn Sie Bescheide oder Rechnungen bekommen, dann freuen Sie sich sicher auch, wenn die in einer einfachen, verständlichen Sprache verfasst sind. Und: Die Verpflichtung zur Barrierefreiheit sollte auch für private Anbieter gelten.
Ich habe meiner Amtszeit das Motto "Demokratie braucht Inklusion" gegeben. Weil Demokratie und Inklusion für mich zwei Seiten derselben Medaille sind. Inklusion ist nicht etwas, was man tut, weil man besonders fürsorglich ist, oder ein humanistisches oder christliches Menschenbild hat. Inklusion sollte eine fundamentale Entscheidung unseres Gemeinwohls sein. Eine Demokratie kann nicht gut sein, wenn sie nicht inklusiv denkt und handelt.
"Pauschaler Ausschluss vom Wahlrecht ist anachronistisch"
tagesschau.de: Was genau meinen Sie damit, auch private Anbieter zur Barrierefreiheit zu verpflichten?
Dusel: Derzeit ist es ja so, dass nur der öffentliche Bereich zur Barrierefreiheit verpflichtet ist. Ich bin aber der Meinung, dass beispielsweise auch ein Unternehmen, das Bankautomaten herstellt, dazu verpflichtet werden müsste. Alle Bankautomaten funktionieren anders und sind nicht selbsterklärend. Das ist eine riesige Herausforderung für Menschen mit Sehbehinderung oder auch ältere Menschen.
Barrierefreiheit müsste hier ein Qualitätsstandard sein, den alle Anbieter gewährleisten müssen.
tagesschau.de: Sie setzen sich für ein Wahlrecht für Menschen mit Behinderung ein. Wieso gibt es das nicht längst?
Dusel: Es gibt bereits Bundesländer, die ein inklusives Wahlrecht haben. Dort dürfen Menschen mit Behinderung bei Landtags- und Kommunalwahlen wählen, bei Bundestags- oder Europawahlen aber nicht. Da sind alle Menschen, die unter sogenannter Vollbetreuung stehen, pauschal ausgeschlossen vom aktiven und passiven Wahlrecht.
Das steht unserer Demokratie nicht gut zu Gesicht und zeugt von einem völlig anachronistischen Bild von Menschen mit Behinderungen.
Da geht es um Menschen, die jeden Tag in einer Behindertenwerkstatt arbeiten, die sich beispielsweise dort ehrenamtlich engagieren oder als Frauenbeauftragte tätig sind. Die haben zum Teil durchaus politisches Interesse, lesen Parteiprogramme in leichter Sprache und wissen schon, wen sie gut finden und wen nicht. Und die wollen wählen - im Gegensatz zu vielen Politikverdrossenen. Sie dürfen es aber nicht.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.
Sehen Sie zum Thema am Montag um 22.45 Uhr im Ersten: "Das Märchen von der Inklusion."