Menschen mit Behinderung Wählen gehen trotz Handicap?
Etwa 80.000 Bundesbürger mit Behinderungen sind von der Bundestagswahl ausgeschlossen. Denn für sie wurde eine Betreuung in allen Angelegenheiten verfügt. Viele von ihnen würden dennoch gerne wählen. Sie bekommen immer mehr Unterstützung.
Jan weiß genau, was er will. Er will erwachsen sein. Der 25-Jährige ist stolz darauf, dass er nicht mehr zuhause wohnt, sondern in einer betreuten Wohngemeinschaft, darauf, dass er einen Job in der Kantine einer Behindertenwerkstatt hat. Dass er wählen kann, hat Jan auch schon bewiesen. Für die Landtagswahl in Berlin im vergangenen Herbst hatte er eine Wahlbenachrichtigung bekommen. Jans Mutter Christiane Müller-Zurek arbeitet bei der Berliner Lebenshilfe, die sich für Menschen mit Behinderung einsetzt. Und sie unterstützte ihren Sohn bei dem Wahlgang. Müller Zurek sagt: "Er geht allein in die Wahlkabine. Mein Mann und ich bereiten ihn vor. Es gibt inzwischen Informationen in einfacher Sprache. Die Lebenshilfe Berlin hat vor ein paar Jahren einen Film gedreht, einen Wahlinformationsfilm. Und damit ist Jan in der Lage, seinen Wahlzettel allein in der Kabine zu bearbeiten."
Bundestagsvize Schmidt: "Das ist diskriminierend"
Auch bei der Bundestagswahl im September würde Jan gerne wählen. Doch er darf nicht. Dabei erkenne er Politiker im Fernsehen, habe einige auch schon aus der Nähe gesehen, sagt Jan. Er habe zum Beispiel Angela Merkel selbst direkt erlebt bei einer Veranstaltung in Berlin. Seine Mutter sagt: "Er orientiert sich sehr an Personen, und deshalb ist es ihm auch wichtig, seine Meinung kundzutun. Eines kann ich Ihnen verraten: Er wählt anders als ich."
Bundestagsvizepräsidentin Ulla Schmidt
Die Lebenshilfe kämpft dafür, dass Menschen wie Jan auch bei der Bundestagswahl wählen dürfen. Die SPD-Politikerin Ulla Schmidt – Bundestagsvizepräsidentin und ehemalige Gesundheitsministerin – ist Vorsitzende der Lebenshilfe: "Hier geht es um Wahlrechtsausschlüsse, die diskriminierend und nach unserer Auffassung auch verfassungswidrig sind. Wählen zu gehen ist ein Grundrecht", sagt Schmidt. Wenn sie Menschen mit Behinderung trifft, geht es oft um das Thema Wahlrecht. Schmidt sagt: "Die haben ein unheimlich hohes Interesse, auch politisch. Die sprechen mich häufig darauf an, fragen zum Beispiel: 'Kennst du die Frau Merkel? Und ich hab den Herrn Lammert gehört im Fernsehen und hab das und das gesehen.' Das sind Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft."
Innenpolitiker befürchten Missbrauch
Nur von der Bundestagswahl sind sie eben ausgeschlossen. Im Parlament gibt es Abgeordnete, die das für richtig halten. Einige Innenpolitiker befürchten, dass das Wahlrecht von den Betreuern missbraucht werden könnte – zum Beispiel, indem sie für Wachkoma-Patienten wählen. Schmidt hält diese Befürchtung für unbegründet. Sie sagt: "Wenn jemand Wachkomapatient ist, kann er nicht wählen. Und wenn ein anderer für ihn wählt, macht der sich strafbar."
Dass die Betroffenen noch vor der Bundestagswahl ihr Wahlrecht bekommen, gilt als eher unwahrscheinlich. Die SPD möchte das Gesetz ändern. In der Unionsfraktion gibt es dagegen Bedenken. Hier will man abwarten, wie das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Dort haben Betroffene geklagt. Wann allerdings die Verfassungsrichter ein Urteil fällen, ist völlig offen.
Für Schmidt ist die Abschaffung der Wahlrechtsausschlüsse überfällig. Auch europaweit hinke Deutschland bei dem Thema hinterher. Sie sagt: "Wir wollen das, was auch in anderen europäischen Ländern gilt – in Frankreich, in den Niederlanden, in Großbritannien, Irland, Schweden, Finnland, Spanien – überall dort dürfen Menschen, die unter vollständiger Betreuung stehen, wählen gehen. Wir möchten das auch für Deutschland haben."