Arbeitsmarkt Kein Mindestlohn für Behinderte
Mit 1,50 Euro pro Stunde sind viele Behinderte, die in Behindertenwerkstätten arbeiten, meilenweit vom Mindestlohn entfernt. Obwohl viele eine ganze normale Fünf-Tage-Arbeitswoche haben. Warum ist das so?
Michael Ihde muss Fingerspitzengefühl beweisen bei der Arbeit mit dem Schraubenzieher. Er verknüpft viele kleine Kabel zu einer Steuerung für Drehtüren. "Damit wird die Tür ganz langsam bewegt, damit wir Menschen durchgehen können", erklärt er. Elektrotechnik für ein ganz normales Produkt, das ganz normal verkauft wird.
Trotzdem ist Michael Ihde kein normaler Arbeitnehmer. Denn er hat eine Behinderung. Seit sieben Jahren ist er einer von mehr als 1100 Mitarbeitern in den Bonner Werkstätten, einer offiziellen Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Offiziell stehen Michael Ihde und die anderen hier in einem "arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis". Deshalb gilt für sie der Mindestlohn nicht.
Kein gleicher Lohn
Dabei gibt es in Behindertenwerkstätten - nicht nur in Bonn - viele Mitarbeiter, deren Beschäftigungsumfang durchaus mit dem klassischer Arbeitnehmer vergleichbar ist: Sie haben eine Fünf-Tage-Woche mit bis zu 39 Stunden. Finanziell gleichgestellt sind sie trotzdem nicht.
Ungerecht, findet Reinhard Jankuhn, Referent beim Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen: "Die Bezahlung ist nicht fair und in vielen Fällen der Leistung auch überhaupt nicht angemessen. Wir fordern eine Entlohnung, die so bemessen ist, dass sie ein selbstständiges Leben ohne andere Zuwendungen ermöglicht." Zu viele Behinderte seien trotz ihrer Arbeit auf Sozialhilfe angewiesen.
Kläger: weniger als 1,50 Euro Stundenlohn
Ein Schwerbehinderter hatte deshalb auf Mindestlohn geklagt. Für seine 38,5-Stunden-Woche in einer Behindertenwerkstatt bekam er monatlich 216 Euro netto - weniger als 1,50 Euro Stundenlohn. Der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland beträgt 8,84 Euro. Doch schleswig-holsteinische Arbeitsgerichte entschieden in zwei Instanzen, Behinderte, die in Werkstätten arbeiten, haben keinen Anspruch darauf. Etwa 700 solcher Werkstätten mit rund 300.000 behinderten Mitarbeitern gibt es in Deutschland.
"Im Gegensatz zu einem Arbeitsverhältnis, welches ein Austauschverhältnis zwischen weisungsgebundener Arbeit und Vergütung ist, kommt in einem Werkstattverhältnis als maßgeblicher zusätzlicher Aspekt noch die Betreuung und Anleitung des schwerbehinderten Menschen hinzu", hieß es.
Besondere Betreuung
Auch die Bonner Werkstätten legen Wert darauf, dass bei ihnen das "soziale Engagement für die uns anvertrauten Menschen im Vordergrund" stehen. Man biete umfangreiche Hilfs- und Betreuungsangebote. Außerdem engagiere man sich für die berufliche Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter, unterstütze sie bei der Suche nach Praktika oder nach betriebsintegrierten Arbeitsplätzen - oder auch bei der Vermittlung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt.
Diese Vermittlung in den sogenannten ersten Arbeitsmarkt funktioniere deutschlandweit allerdings insgesamt noch zu selten, kritisiert Jankuhn: "Es gibt ein Problem, das auch immer wieder von den Werkstatt-Beschäftigten selbst genannt wird: Dass Werkstätten natürlich ein Interesse daran haben, qualifizierte Beschäftigte auch zu behalten."
Besondere Rechte
Viele Menschen mit Behinderung fühlen sich in dem besonderen Umfeld von Werkstätten auch besonders wohl. Und sie haben besondere Rechte: So kann ihnen zum Beispiel bei geringerer Leistung nicht gekündigt werden. In den Bonner Werkstätten gibt es keinen Leistungsdruck, die Werkstatt erwirtschaftet keinen Gewinn. Das müsste sich ändern, wollte man den Mitarbeitern mehr bezahlen. Oder die Politik müsste etwas ändern.
Die pädagogische Leiterin der Bonner Werkstätten, Isabel Torres-Ehm, sagt: "Wenn wir könnten, würden wir ganz sicher gerne mehr bezahlen. Aber, ich denke, das ist eine politische Weichenstellung, die auch nur politisch beantwortet werden kann."
Arbeitsministerium: "Eingeschränktes Leistungsvermögen"
Im zuständigen Arbeitsministerium sieht man keinen Anlass, den Mindestlohn auf Behinderte auszuweiten. Dort verweist man darauf, dass die arbeitnehmerähnlichen Arbeitsverhältnisse in Behindertenwerkstätten nicht mit denen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vergleichbar seien: "In den Werkstätten sind Menschen mit Behinderungen beschäftigt, deren Leistungsvermögen wegen Art oder Schwere ihrer Behinderung so eingeschränkt ist, dass ihnen eine Teilhabe am Arbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu den dort üblichen Bedingungen nicht möglich ist."
Tatsächlich ist die Arbeit in Behindertenwerkstätten den Fähigkeiten jedes einzelnen Mitarbeiters angepasst. Trotzdem ist die Arbeit hier keine reine Beschäftigungstherapie. Die Drehtürsteuerung, die Michael Ihde in Bonn produziert, wird schon bald irgendwo jemandem den Weg frei machen. Die Tür zum Mindestlohn dagegen scheint für viele Behinderte auf unbestimmte Zeit verschlossen zu bleiben.