Teilhabegesetz im Bundestag Meilenstein oder Bremsklotz?
Gleiche Chancen und Möglichkeiten für Behinderte im Alltag - das ist das Ziel des Teilhabegesetzes, über das der Bundestag heute abstimmt. Das Prinzip klingt gut - doch Hilfsverbänden und Kritikern gehen die Regelungen nicht weit genug.
Der Bundestag stimmt heute über das Teilhabegesetz für Menschen mit Behinderung ab. Die von Arbeitsministerin Andrea Nahles entworfenen Regelungen sollen dafür sorgen, dass Behinderte nicht nur Fürsorge erhalten, sondern stärker am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.
Punkte des Gesetzentwurfes sind etwa, dass Behinderte in der Wahl ihres Wohnortes oder ihres Arbeitsplatzes mehr Unabhängigkeit bekommen sollen. Bislang müssen Menschen mit einem bestimmten Behinderungsgrad eine Unterbringung in einem Heim akzeptieren, um finanzielle Unterstützung vom Staat zu erhalten. Das soll sich ändern: Mit dem Gesetz soll es Geld ganz unabhängig vom Wohnort geben. Zudem sollen Behinderte künftig mehr Geld für sich zurücklegen können und damit finanziell unabhängiger werden. Nahles sieht in ihrer Reform einen "Meilenstein".
Bund lenkt kurz vor Abstimmung ein
Doch so euphorisch sind viele Hilfsverbände und -organisationen nicht. Ganz im Gegenteil befürchtet die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Niedersachsen etwa, dass sich die Lebenssituation von Behinderten durch das neue Gesetz sogar zu verschlechtern drohe, sollten nicht "zentrale Punkte" geändert werden. Der Hauptkritikpunkt: Die Hürden für staatliche Unterstützung seien viel zu hoch.
Ein Vorwurf, auf den die schwarz-rote Koalition kurz vor der heutigen Abstimmung noch reagiert hat: Der ursprüngliche Gesetzentwurf sah vor, dass Menschen in fünf von neun Lebensbereichen aufgrund ihres Handicaps auf Unterstützung angewiesen sein müssen, um finanzielle Hilfen in Anspruch nehmen zu können. Zu diesen Bereichen zählen etwa Mobilität, Kommunikation und die Fähigkeit zur Selbstversorgung. Diese Voraussetzungen für den Zugang zu Leistungen strich die Regierung.
Mehr als zehn Prozent der deutschen Bevölkerung sind schwerbehindert - 7,5 Millionen Menschen.
Das Bundesteilhabegesetz soll ihnen zu mehr Rechten verhelfen. So sollen sie besser wählen können, wo und wie sie leben. Sie sollen Geld ansparen können, Barrieren sollen abgebaut, die Gleichberechtigung soll gestärkt werden.
Mit dem Bundesteilhabegesetz will die Bundesregierung die UN-Behindertenkonvention umsetzen. Die verlangt, dass die Hilfe für Behinderte nicht nur als Fürsorge gewährt wird, sondern als Chance zur umfassenden gesellschaftlichen Teilhabe begriffen wird. Angesetzt werden soll an mehreren Stellen.
Zwar sind die Ausgaben für Eingliederungshilfe seit 2005 von 11,3 bereits auf 16,4 Milliarden Euro gestiegen. Trotzdem kann es zu Armut führen, wenn man behindert ist und Eingliederungshilfe bezieht. Denn heute dürfen Behinderte nur 2600 Euro besitzen - alles andere wird auf die Hilfszahlungen angerechnet. Der sogenannte Vermögensfreibetrag soll bis 2020 auf bis zu 50.000 Euro in Stufen ansteigen. Das Einkommen des Partners soll freigestellt werden.
Auch die Bundesländer sollen besser koordiniert werden. Oft müssen die Betroffenen von Hilfeträger zu Hilfeträger laufen. Künftig soll ein Träger erstzuständig sein und die Anträge weiterleiten.
Ein anderes Beispiel betrifft den Schritt aus den geschützten Werkstätten in den normalen Arbeitsmarkt. Er fällt vielen Behinderten schwer. Ein "Budget für Arbeit" für Arbeitgeber soll helfen. Wer Betroffene einstellt, soll einen unbefristeten Lohnkostenzuschuss erhalten.
Bis 2020 sind nun Mehrausgaben für den Bund von mehr als 1,5 Milliarden vorgesehen, für Länder und Gemeinden von 350 Millionen Euro.
Gefährdet Pooling die Selbstbestimmung?
Und auch in einem weiteren Punkt lenkten Union und SPD ein: beim sogenannten Pooling. Darunter versteht man, dass Leistungen für mehrere Behinderte gewährt werden. Ein Beispiel ist etwa ein gemeinsamer Fahrservice.
Verena Bentele sieht in dem Teilhabegesetz ein Fundament für weitere Schritte.
Für die gepoolten Leistungen müssten aber die Kriterien der "Zumutbarkeit und Angemessenheit" gelten, warnte die Bundesbehindertenbeauftragte Verena Bentele. Sie sieht etwa die Gefahr, dass Behinderte auch auf diesem Wege keine andere Wahl haben, als in einem Heim zu leben, um auf die Leistungen zugreifen zu können.
Bentele befürchtet, dass es "große Auseinanandersetzungen" geben könnte, wenn ein Behinderter sein Recht auf dieselben Leistungen nur für sich allein in Anspruch nehmen will. Sie sieht in dem Gesetz ein "Fundament", auf dem man weiter aufbauen müsse: "Es gibt noch viel zu tun, um Teilhabe von Menschen umfassend zu stärken."
Miteinander von Teilhabe und Pflege gefordert
Der Bundesverband evangelischer Behindertenhilfe hat seine Kritikpunkte in einer "Bremer Erklärung" zusammengetragen. Auch hier finden sich die zu hohen Hürden und die Sorge, dass Teilhabe und Pflege nicht Hand in Hand gehen. Denn der Wunsch nach mehr Unabhängigkeit hebe die Notwendigkeit von Pflegeleistungen nicht auf. "Pflege und Teilhabe müssen besser miteinander verknüpft werden", fordert der Verband. Eine Forderung, die auch die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege vorbringt. Eine gute Verknüpfung müsse auch bedeuten, dass Behinderte durch die Neuregelungen weder "in die Pflege verschoben" noch von ihr ausgeschlossen werden.