Untersuchung und Vernehmung Wie Vergewaltigungsopfer retraumatisiert werden
Nach einer Vergewaltigung sollen Opfer das Recht haben, von einer gleichgeschlechtlichen Person untersucht und vernommen zu werden. Doch in der Praxis ist das oft nicht der Fall - wie ein Beispiel aus Brandenburg zeigt.
Eine Sommernacht im August 2022 in einem Berliner Vorort. Anja L.*s 16-jährige Tochter Mia* kommt von einem Fest nach Hause. Sie verhält sich merkwürdig, will erst nicht reden. Aber dann bricht es doch aus ihr heraus: Sie sei auf dem Heimweg von einem Mann vergewaltigt worden.
"Ich habe meinen Mann geweckt und sofort die Polizei gerufen. Dabei habe ich immer meine Tochter im Arm gehabt und versucht, sie zu trösten. Dann ging alles sehr schnell. Nach ein paar Minuten war die Polizei bei uns", erzählt die Mutter im Interview mit rbb24 Recherche.
Spurensicherung durch einen männlichen Oberarzt?
Nach einer ersten Befragung durch die Polizisten fährt die Familie zur Spurensicherung ins Klinikum Ernst von Bergmann nach Potsdam. Dort ist die Frauenklinik auf Spurensicherung nach Vergewaltigungsfällen spezialisiert. Doch in dieser Nacht hat nur ein männlicher Gynäkologe Dienst. "Ich habe ihm dann erklärt, dass unsere Tochter noch nie gynäkologisch untersucht wurde und ich es jetzt nach einer Vergewaltigung garantiert nicht zulassen werde, dass sie von einem Mann untersucht wird", berichtet Anja L. über den Verlauf dieser Nacht.
Die Mutter gibt nicht nach. Schließlich springt eine Assistenzärztin ein. Dem Wunsch der Mutter wird entsprochen, doch eigentlich soll erfahrenes Personal mit Facharztexpertise diese Untersuchung vornehmen. Denn das Ergebnis muss letztlich als Beweismittel vor Gericht standhalten.
Chefärztin steht vor einem Dilemma
Dass in dem Potsdamer Krankenhaus Tag und Nacht eine weibliche Ärztin mit der notwendigen Expertise Dienst hat, könne niemand garantieren, erklärt die Chefärztin der Frauenklinik, Dorothea Fischer. "Das würde von unserem Dienstplan her gar nicht gehen. Das würde bedeuten, dass wir deutlich mehr Fachärztinnen oder Oberärztinnen im Team haben müssten, die das dann leisten können."
Für die Spurensicherung sei eine gewisse Erfahrung wichtig. Deshalb werde das Team auch besonders geschult. Wenn unerfahrene Ärztinnen oder Ärzte Spuren übersehen oder nicht dokumentieren, sei das schlecht für das Opfer, sagt die Chefärztin. "Es ist ein absolutes Dilemma. Ich würde mir wünschen, dass wir in Deutschland die Möglichkeit hätten, weiblichen Opfern immer eine Ärztin zur Seite zu stellen, die eine extrem gute Expertise hat." Doch dafür fehlten Geld und Mitarbeiterinnen.
Verpflichtung zum Opferschutz gefordert
Laut Strafprozessordnung soll genau das jedoch möglich sein, wenn Opfer dies wünschen. Konkret heißt es in Paragraf 81d, dass dem Wunsch, die Untersuchung von einer gleichgeschlechtlichen Person durchführen zu lassen, möglichst entsprochen werden soll. Aber einen Rechtsanspruch darauf gibt es nicht.
Die Opferschutzorganisation "Weißer Ring" fordert deshalb, dass aus der unverbindlichen Regelung eine Verpflichtung wird. "Wenn ein junges Mädchen gerade von einem Mann vergewaltigt wurde und dann trifft es eine Stunde später in der Klinik wieder einen Mann, der die Spurensicherung vornehmen soll - auch wenn er einen weißen Kittel anhat, das sollte nicht sein", sagt Martin Gronwald vom Brandenburger Landesbüro des "Weißen Rings".
Er schlägt deshalb vor, dass die Polizei vorher bei den Kliniken nachfragt, wo eine Ärztin Dienst hat, die die Untersuchung durchführen kann. Brandenburg ist nicht das einzige Land, in dem die Regelung aus der Strafprozessordnung nicht verbindlich umgesetzt wird. Bislang, so das Ergebnis einer bundesweiten Umfrage von rbb24 Recherche, ist dieser Standard in keinem Bundesland etabliert.
Keine Verpflichtung zur weiblichen Beamtin
Mias Mutter muss darüber hinaus für die Durchsetzung des Opferschutzes kämpfen. Morgens um 8 Uhr, nach der Spurensicherung, fragt ein Polizist, ob sich das Mädchen jetzt noch zur Vernehmung bei der Kripo in der Lage fühle. Die Mutter sagt zu, besteht aber auf einer Vernehmungsbeamtin. Der Polizist reagiert unwirsch: "Daraufhin sagte er wortwörtlich zu mir: 'Hören Sie mal zu, junge Frau. Das ist ja kein Wunschkonzert. Wir machen das jetzt so, wie ich das sage.'" Aber Anja L. insistiert. Schließlich befragen doch zwei Frauen der Kripo Mia im Beisein der Mutter.
Die Brandenburger Polizei weist zwar in einer internen Handlungsempfehlung darauf hin, dass Vergewaltigungsopfer, wenn möglich, durch eine weibliche Beamtin vernommen werden sollen. Solche polizeilichen Handlungsempfehlungen existieren in den meisten Bundesländern. Das ergibt eine bundesweite Umfrage von rbb24-Recherche. Doch eine Verpflichtung ergibt sich daraus nicht zwingend. Nur das LKA Hamburg antwortet, dass weibliche Geschädigte grundsätzlich von Kolleginnen vernommen werden. Es sei denn, es werde anders gewünscht.
Retraumatisierung als Zeugin vor Gericht
Ein halbes Jahr später muss Mia noch ein einmal vor Gericht aussagen. "Man kann sich ungefähr vorstellen, was das für ein 16-jähriges Mädchen bedeutet", sagt Anja L. "Sie soll Fragen beantworten, die mit einem wahnsinnigen Trauma zu tun haben. Und das, während lauter fremde Leute, im Übrigen vorwiegend Männer, um sie herumsitzen? Das ist noch mal traumatisierend."
Um dem Mädchen das zu ersparen, hatte der Anwalt der Familie schon mehrere Monate vor der Gerichtsverhandlung eine richterliche Videovernehmung beantragt. Damit soll vermieden werden, dass insbesondere minderjährige Opfer vor Gericht aussagen müssen. Aber die zuständige Richterin reagierte nicht auf den Antrag. Sie stand kurz vor der Pensionierung und hatte damit keine Erfahrung.
Videovernehmung als gängige Praxis
Die Formulierungen in der Strafprozessordnung lassen Richtern und Staatsanwälten einen Ermessensspielraum. Sie sind es, die am Ende darüber entscheiden, ob im Interesse der Opfer gehandelt wird oder nicht. Während die Videovernehmung in Berlin inzwischen gängige Praxis ist, wird sie beispielsweise in Brandenburg seltener durchgeführt. Wie oft, dazu kann das Justizministerium in Potsdam keine Angaben machen: Die Anordnungen werden statistisch nicht erfasst.
Roland Weber, Opferbeauftragter in Berlin, hatte sich über Jahre sehr dafür stark gemacht, dass die Videovernehmung in der Hauptstadt umgesetzt wird. Die Erfahrungen seien sehr gut. "Es geschieht nur noch selten, dass wir mit minderjährigen Opfern oder Geschädigten von Sexualstraftaten vor Gericht gehen müssen", so Weber.
Dass das bundesweit nicht immer so funktioniert, liege auch daran, dass Richter und Staatsanwälte für den Umgang mit Opfern von Sexualstraftaten nicht ausreichend geschult seien, meint Katharina Göpner vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen. Sie fordert deshalb, "dass es Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften und Gerichte geben sollte, die dann solche Fälle von Gewalt gegen Frauen schwerpunktmäßig bearbeiten."
Ende Januar wurde der Vergewaltiger von Mia zu drei Jahren Haft verurteilt. Das Mädchen leidet noch immer unter den psychischen Folgen der Gewalttat. Sie bekommt Antidepressiva und versucht, diese Nacht zu vergessen. Ihre Mutter hofft, dass sich die Mitarbeiter in den zuständigen Institutionen mehr in die Opfer hineinversetzen und in ihrem Sinne handeln. "Es gab ganz viele Punkte, wo es eine Kann-Situation war, wo man so oder hätte entscheiden können", sagt Anja L. am Ende des Interviews. "Es wurde aber nie im Sinne des Schutzes der Jugendlichen entschieden."
*Namen geändert