Interview

Vor Entscheidung zu ESM und Fiskalpakt "Der Bundestag ist Karlsruhe nicht mehr genug"

Stand: 11.09.2012 13:42 Uhr

Am Mittwoch gibt das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung über die Eilanträge gegen den Rettungsfonds ESM und den Fiskalpakt bekannt. Die Kläger wollen auf diesem Weg verhindern, dass Deutschland durch Hinterlegung der Ratifikationsurkunden völkerrechtlich gebunden ist, bevor das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit der Verträge bestätigt hat. Über die Verfassungsmäßigkeit urteilen die Richter erst im folgenden Hauptsacheverfahren. Die Entscheidung über die Eilanträge dürfte dieses Mal aber bereits eine Vorentscheidung sein.

tagesschau.de: Alle gehen davon aus, dass am Mittwoch bereits die Entscheidung über Fiskalpakt und ESM fällt. Wofür braucht man dann überhaupt noch ein Hauptverfahren?

Franz Mayer: Es wäre durchaus möglich, dass bereits am Mittwoch die endgültige Entscheidung fällt und die Sache sogar für erledigt erklärt. Dann würde es gar kein Hauptsacheverfahren mehr geben. Wir befinden uns hier in einem Bereich, für den es keinen Präzedenzfall gibt. Alles ist denkbar.

Zur Person
Franz Mayer ist seit 2007 Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Bielefeld. Er vertrat den Deutschen Bundestag in mehreren Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht - darunter im Verfahren zu den Griechenlandhilfen und dem befristeten Euro-Rettungsschirm EFSF.

tagesschau.de: Was wäre denn, wenn das Bundesverfassungsgericht die Eilanträge ablehnt?

Mayer: Dann steht es der Bundesregierung frei, den Fiskal- und ESM-Vertrag zu ratifizieren. In Kraft treten die Verträge aber erst, wenn die jeweils erforderliche Anzahl an Staaten zugestimmt hat. Erst danach werden die entsprechenden Mechanismen wirksam und der Rettungsschirm wird gespannt. Hier warten aber mittlerweile alle auf die deutsche Ratifikation.

tagesschau.de: Was würde passieren, wenn das Bundesverfassungsgericht den Eilanträgen stattgäbe?

Mayer: Eine Stattgabe ohne jede Einschränkung ist mehr als unwahrscheinlich. Rechtlich denkbar wären zwei Optionen. Erstens: Das Gericht zieht sich auf eine Folgenabwägung zurück. So macht man es normalerweise im Eilverfahren. Das heißt, man prüft noch gar nicht die Verfassungsmäßigkeit von ESM und Fiskalpakt, sondern nur, was mögliche Folgen der Stattgabe oder Nichtstattgabe im Eilverfahren wären. Alle inhaltlichen Aussagen würden auf das Urteil in der Hauptsache vertagt. Dann hätten sie sich aber drei Monate für etwas Zeit gelassen, was sie schon im Juli hätten tun können. Da würden sich alle Akteure sicherlich reichlich veräppelt fühlen.

Zweite Option: Das Gericht gibt den Eilanträgen statt, weil ESM und Fiskalvertrag nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Das halte ich aus inhaltlichen Gründen für ebenso unwahrscheinlich. Der ähnlich gestrickte temporäre Rettungsschirm EFSF wurde im September 2011 ja auch nicht für verfassungswidrig erklärt. Das heißt, die eigentlichen verfassungsrechtlichen Fragen sind schon vorgeklärt. Nämlich die Wahrung des Budgetrechts des deutschen Parlamentes und die Frage, wie das Arbeiten eines solchen Rettungsschirms künftig national begleitet werden kann.

tagesschau.de: Dass durch einen dauerhaften Rettungsschirm strukturell in das Budgetrecht des Bundestages eingegriffen werden könnte, halten Sie verfassungsrechtlich nicht für problematisch?

Mayer: Nein. Bei EFSF wie ESM gilt: Man hat einen Rettungsschirm, aus dem heraus Hilfsmaßnahmen organisiert werden, die zeitlich und im Volumen begrenzt sind. Außerdem sind sie an ganz strikte Voraussetzungen geknüpft, die den Staaten sehr weh tun. Die Dauerhaftigkeit des ESM bedeutet ja nicht, dass die Rettungsmaßnahmen unbegrenzt wirken. Es gibt auch keine unbegrenzte Haftung. Das ist eine Phantomdiskussion: Im ESM-Vertrag steht - und eindeutiger kann man das nicht formulieren  - in Art. 8 Absatz 5: Die Haftung eines jeden ESM-Mitglieds bleibt "unter allen Umständen" auf seinen Anteil begrenzt. Die Betonung liegt auf "unter allen Umständen". Wie soll man das noch deutlicher sagen?"

"Am wahrscheinlichsten ist ein 'Ja, aber'"

tagesschau.de: Was halten Sie für das wahrscheinlichste Szenario?

Mayer: Am wahrscheinlichsten ist eine "Ja, aber"-Entscheidung. Damit meine ich, dass das Bundesverfassungsgericht zwar grundsätzlich "Ja" zu beiden Verträgen sagen wird,  dass es dies aber mit gewissen Auflagen verbindet. Nehmen wir den ESM. Inzwischen ist klar, dass der ESM – von der Bundesregierung zunächst als gewöhnlicher völkerrechtlicher Vertrag außerhalb der EU präsentiert - als eine  Angelegenheit der Europäischen Union zu behandeln ist. Also liegt nahe, dass die Richter ähnlich entscheiden werden wie zum Lissabon-Vertrag 2009. Dieser Vertrag wurde ja als vereinbar mit dem Grundgesetz angesehen. Er enthielt jedoch Mechanismen zur dynamischen, vereinfachten Fortentwicklung der Verträge, die dem Gericht suspekt waren: die vereinfachte Vertragsänderung, die Möglichkeit von der Einstimmigkeit zur Mehrheitsentscheidung überzugehen und vieles mehr. All diese Mechanismen müssen nach dem Lissabon-Urteil  in Deutschland wie eine formale Vertragsänderung oder wie ein neuer Vertrag behandelt und mit einem speziellen Zustimmungsgesetz, das auf den Europa-Artikel des Grundgesetzes gestützt ist, den Art. 23, ratifiziert werden.    

So könnte es auch hier kommen: Bislang ist festgelegt, dass bei sehr wichtigen Maßnahmen auf ESM-Ebene der ganze Bundestag zustimmen muss. Bei weniger wichtigen reicht der Haushaltsausschuss. Das ist ein gestuftes System, der Plenarbeschluss ist dabei das größte Kaliber. In der Logik des Lissabon-Urteils läge es aber, die Weiterentwicklung des ESM-Vertrages -  etwa die Einführung neuer Hilfsinstrumente, die nach dem Vertrag die ESM-Organe einstimmig beschließen dürfen - wie eine formale Vertragsänderung zu werten und ein Gesetz nach Artikel 23 GG zu verlangen. Der Unterschied: Plenarbeschluss wäre nicht genug. Nicht nur der Bundestag, sondern auch der Bundesrat müsste dann zustimmen. Möglicherweise sogar mit Zweidrittelmehrheit, weil es sich um eine verfassungsändernde Regelung handeln könnte.

tagesschau.de:  Das hört sich nach einer ziemlich guten Kompromisslösung an.

Mayer: Nun ja. So ein Urteil stünde ganz in der Tradition bisheriger Karlsruher Richtersprüche zur europäischen Integration: Am Ende hätten alle irgendwie gewonnen. Zumindest würde man das behaupten. Die Bundesregierung würde sagen: "Seht ihr, unterm Strich ist alles verfassungsgemäß." Die Kläger könnten sagen: "Gut dass wir geklagt haben und dadurch die innerstaatliche Verantwortung gestärkt wurde." Und das Bundesverfassungsgericht hätte gerechtfertigt, dass es die Welt nochmal drei Monate lang warten ließ.

tagesschau.de: Wäre denn die Beteiligung des Bundesrates praktisch bedeutsam?

 Mayer: In der Praxis würde es einen erheblichen, womöglich ziemlich problematischen politischen Unterschied machen, ob man den Bundesrat an Bord haben müsste oder nicht. Schließlich ist der Bundesrat nicht selten in Händen der jeweiligen Bundestagsopposition und selbst wenn nicht, verlangen die Länder nicht selten völlig sachfremde Gegenleistungen vom Bund für eine Zustimmung. Auch die Dauer der innerstaatlichen Zustimmungsverfahren wäre dann wesentlich länger. Ganz zu schweigen von der Streitfrage, ob und wann es bei diesen speziellen Zustimmungsgesetzen nach Art. 23 sogar Zweidrittelmehrheiten geben müsste. Solche Aspekte der verfassungspolitischen Realität scheinen für das BVerfG leider aber eher nachrangig.

"Es wäre plausibel, sich nicht auf den Bundestag zu verlassen"

tagesschau.de: Aber es steht doch zu erwarten, dass das Gericht einmal mehr das Parlament stärkt?

Mayer: Da muss man genau hinschauen. Möglicherweise traut das Bundesverfassungsgericht dem Bundestag nicht mehr so recht und ist ernüchtert, nachdem man im Bundestag kürzlich versucht hat für die Kontrolle der Euro-Rettung ein verfassungswidriges Kleinstgremium, das sogenannte Neuner-Gremium, zu etablieren. Das hat das Gericht auf Klage von zwei Abgeordneten in weiten Teilen gestoppt. Aber nach dieser Erfahrung wäre es plausibel, sich für die Kontrolle nicht auf den Bundestag zu verlassen, sondern auch den Bundesrat an Bord zu nehmen. Und vielleicht erklären sich auch hier die Hinweise einzelner Richter zum Thema Volksabstimmung. Die Eurorettung ist also auch ein Test für die Leistungsfähigkeit unseres parlamentarischen Systems. Beim Neuner-Gremium haben die Politiker schon einmal die Prüfung ziemlich eindeutig nicht bestanden.

tagesschau.de: Gibt es noch andere denkbare Einschränkungen, die das Bundesverfassungsgericht verlangen könnte?

Mayer: Es wäre möglich, dass die Bundesregierung dazu verpflichtet, wird anlässlich der Ratifikation irgendeine Art von Erklärung abzugeben. Da ist vieles denkbar. Etwa eine Art freundliche Einladung an die anderen Länder, die Dinge ähnlich zu interpretieren wie Deutschland das tut. Das hätte dann vor allem eine verfassungspsychologische Funktion, vor allem innenpolitisch für die deutsche Bevölkerung. Von großer rechtlicher Relevanz wäre das nicht.

tagesschau.de: Was wäre eine härtere Einschränkung?

Mayer: Es gibt das völkerrechtliche Instrument des Vorbehalts. Das heißt, man erklärt, dass man bestimmte Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen für sich nicht oder nicht ganz gelten lassen will. Ich halte das hier aber für weniger wahrscheinlich und auch für problematisch. Denn dann müssten sich die anderen Staaten wieder dazu positionieren. Es wäre eine andere Art, den Vertragsinhalt nachzuverhandeln. Außerdem ist in der Wiener Vertragsrechtskonvention recht genau geregelt, wie weit man da gehen darf. Man darf zum Beispiel nicht den vorher vereinbarten Vertragsinhalt ad absurdum führen.

tagesschau.de: Was wäre ein Beispiel für so einen sinnwidrigen Vorbehalt?

Mayer: Viele halten den Fiskalvertrag für problematisch, weil er angeblich - das ist aber übrigens ein Missverständnis - eine ewige Bindung der Bundesrepublik an die Schuldenbremse zur Folge haben soll. Man könnte nun über einen Vorbehalt nachdenken, den Fiskalvertrag durch einseitige Erklärung jederzeit aufzukündigen. Das wäre ein Vorbehalt, der meines Erachtens völkerrechtlich nicht zulässig wäre, weil er den Sinn und Zweck des Fiskalpaktes zunichtemachen würde. Es ist ja gerade notwendig, dass man da nicht ohne weiteres heraus kann. Man denke nur an Staaten wie Spanien oder Italien, die womöglich größere Probleme mit der Schuldenbremse hätten als Deutschland.

tagesschau.de: Wäre eine nachträgliche Änderung der Verträge überhaupt keine Option?

Mayer: Nein. Echte Nachbesserungen an den Verträgen würden neue Verhandlungen mit den anderen Mitgliedsländern erfordern. Damit wären  alle Ratifikationen hinfällig und der ganze Prozess würde nochmal von vorne beginnen.

"Die Richter kommen hier an Grenzen"

tagesschau.de: Wird das jetzt immer so weitergehen, dass alle sechs bis zwölf Monate das Bundesverfassungsgericht über die Zukunft des Euro entscheidet?

Mayer: Ich hoffe es nicht. Es nicht gut, wenn das Bundesverfassungsgericht auf Dauer zum zentralen Akteur der Eurorettung wird. Die Richter und auch das Verfassungsrecht kommen hier an Grenzen. Weil die Urteile immer schneller geschrieben werden müssen, verlieren sie auch immer mehr an intellektueller Kohärenz. Und es ist doch auch eine Illusion, zu glauben, dass die acht Richterinnen und Richter des Zweiten Senats am besten wüssten, wie der Euro zu retten ist. Das Gericht wäre schon jetzt gut beraten, ein hohes Maß an richterlicher Zurückhaltung zu üben und die eigentlichen Entscheidungen und damit auch die Verantwortung der Politik zu überlassen.

Sonst nimmt eine Rollenumkehrung noch mehr zu, die jetzt schon beobachtet wird: Die Politiker argumentieren mehr oder weniger laienhaft juristisch, in den daraus folgenden Gerichtsverfahren wird das Bundesverfassungsgericht zum zentralen mehr oder weniger geschickt agierenden politischen Akteur. Das Bundesverfassungsgericht sollte sich darauf auf Dauer nicht einlassen. Sonst droht noch häufiger als jetzt Folgendes: Bei formularmäßigen und kampagnenartig eingelegten Verfassungsbeschwerden in der Größenordnung von 20.000 oder 30.000 Beschwerdeführern, die von einem Verein organisiert sind, wie hier gegen den ESM, geht es gar nicht mehr ernsthaft um Rechtsschutz, sondern um politischen Meinungskampf oder noch schlichter Publicity. Ich halte das in Teilen für einen verantwortungslosen Umgang mit unseren Verfassungsressourcen. Da sollte das Gericht sich nicht instrumentalisieren lassen.

Und schließlich würde ich mir auch vom Bundesverfassungsgericht wünschen, dass es den Bürgern die Zusammenhänge besser erklärt, so wie es Bundespräsident Gauck von der Politik verlangt hat. Dazu gehört nicht nur die Wirkungsweise der Rettungsschirme und die Eingebundenheit Deutschlands in einen EU-Binnenmarkt und eine Weltwirtschaft. Die Anti-Europa-Hetze einiger Verbände und Akteure überschreitet zum Teil jedes Maß, wenn etwa von ESM-Diktatur gesprochen wird. Auch scheinen ja viele der Kläger eine Rückkehr zum Nationalstaat im Auge zu haben. Hier könnten die Richter einmal betonen, dass auch das verfassungswidrig wäre: Das Grundgesetz verpflichtet uns schon in der Präambel mit dem Staatsziel "Vereintes Europa" darauf, dass wir uns konstruktiv um die europäische Einigung bemühen. Solange das Grundgesetz gilt, ist Europa also eine echte Verfassungsaufgabe und zwar verfassungsrechtlich alternativlos.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.