Robert Habeck
interview

"Trauzeugen-Affäre" im Ministerium "Habeck muss enorm aufpassen"

Stand: 05.05.2023 11:16 Uhr

Die Vorwürfe gegen seinen Staatssekretär kommen für Wirtschaftsminister Habeck zur Unzeit, sagt der Publizist von Lucke. Selbst eine schnelle Trennung würde das Problem kaum lösen. In der Ampel werden die Grünen weiter geschwächt.

tagesschau.de: Herr von Lucke, bei den letzten großen Streitthemen der Koalition war schnell von einer Kampagne die Rede, etwa im Heizungsstreit. Gilt das jetzt auch oder ist doch etwas dran am Filz-Vorwurf gegen das Wirtschaftsministerium?

Albrecht von Lucke: Der Filz-Vorwurf trifft zu, da Staatssekretär Patrick Graichen sich bei der Wahl seines Trauzeugen zum Geschäftsführer der Deutschen Energie-Agentur, der dena, nicht der Stimme enthalten hat. Dadurch ist der Eindruck der Befangenheit entstanden. Zugleich aber - und das macht die Angelegenheit so dramatisch - ereilt dieser Skandal Robert Habeck in einer Situation, in der gerade sein Ministerium mit der Klimakrise die wohl größte politische Aufgabe überhaupt zu bewältigen hat.

Spätestens seit dem missratenen Heizungsgesetzentwurf wird massiv gegen ihn geschossen. Und zwar nicht nur seitens der Opposition - und vor allem den Medien des Springer-Verlages -, sondern eben auch aus der eigenen Regierung seitens FDP und SPD. Habeck ist also nicht nur der bevorzugte Gegner der Opposition, sondern auch seiner "Koalitionspartner". Dadurch droht aus dem Fall Graichen ein so gravierender Vorfall zu werden, der die politische Handlungsfähigkeit des Ministeriums untergraben könnte.

Publizist Albrecht von Lucke
Zur Person

Albrecht von Lucke, Jahrgang 1967, ist Jurist und Politikwissenschaftler. Er arbeitet als Redakteur der Zeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik" und als Hörfunk-Kommentator.

tagesschau.de: Wie erklären Sie sich die bestenfalls politische Naivität oder Blindheit, die zu dieser Personalie geführt hat?

Albrecht von Lucke: Zunächst ist da die fehlende Professionalität und Sensibilität von Herrn Graichen, dem entscheidenden Mann von Habeck in der Bewältigung der Energiekrise. Aber die Instinktlosigkeit geht weiter. Die Vorwürfe wegen der enormen Verbindungen der Mitglieder der Familie Graichen im Ministerium kamen ja schon vor anderthalb Jahren auf. Umso mehr hätte man erwarten müssen, dass ein Politik-Profi wie Habeck absolute Sensibilität in derartigen Fragen anmahnt.

So aber ist der Eindruck entstanden, es handele sich um einen Selbstbedienungsladen, gewissermaßen ein "Familienministerium Graichen" im Klima- und Wirtschaftsministerium. Das allein ist verheerend und hat weit mehr als ein Geschmäckle. Es stellt das Ministerium in Gänze in ein ganz fatales Licht. Zumal man auch an Habecks Gespür zweifeln konnte, als er jüngst aus den Händen seines Bruders einen Preis entgegennahm, obwohl er da schon durch den Heizungsstreit maximal in der Krise stand.

tagesschau.de: Wie kann Habeck das Problem lösen?

von Lucke: Er muss jetzt enorm aufpassen, dass aus dem Skandal um seinen Staatssekretär kein "Skandal Habeck" oder seines gesamten Ministeriums wird. Er hat allerdings nur zwei Möglichkeiten, die beide für ihn fatal sind. Entweder er entlässt Graichen, dann verliert er seinen wichtigsten Mann. Oder er hält an Graichen fest, dann aber wird er den Eindruck der Vetternwirtschaft nicht mehr los.

Rein rechtlich ist, wie Habeck sagt, die Angelegenheit zwar durchaus "zu heilen", indem die Stelle des dena-Chefs neu ausgeschrieben wird. Der politische Schaden dagegen lässt sich nicht heilen, der bleibt - und niemand wird sich darüber mehr ärgern als Habeck selbst.

tagesschau.de: In dieser Abwägung, scheint da eine schnelle Entlassung Graichens nicht unvermeidlich?

von Lucke: Habeck muss jetzt vor allem deutlich machen, dass die begangenen Fehler erkannt wurden und Konsequenzen haben. Dafür wird die richtige Neuausstellung der Stelle nicht reichen.

Man muss sich nur das Agieren der CDU und CSU anschauen, wo Gitta Connemann, die Bundesvorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, schon einen Untersuchungsausschuss fordert. Und auch der notorisch Grünen-feindliche FDP-Vize Wolfgang Kubicki hat Habeck die Entlassung Graichens bereits nahegelegt. So sehr Habeck an einem solchen schnellen, harten Schnitt wohl nicht vorbeibekommt: Das Thema wird damit nicht vom Tisch sein. Denn Patrick Graichen ist ja nur einer von vielen Familienangehörigen, die im engeren oder weiteren Sinne mit dem Ministerium verbunden sind. Damit bleibt der Verdacht im Raum, dass dieses Ministerium als Familienbetrieb geführt wird.

tagesschau.de: In der öffentlichen Wahrnehmung stand Habeck lange für einen anderen Politikstil. Bei der Klimapolitik will er "in allen Bereichen dreimal besser sein". Jetzt geht es um seine Reputation. Was bedeutet das für seine Art, Politik zu machen und Konflikte zu lösen?

von Lucke: Seine Gegner werden jetzt nur noch von einer "anderen Art der Politik" in Anführungszeichen sprechen. Wobei man Habeck in dieser Hinsicht durchaus in Schutz nehmen muss: Er hat sich früher weit weniger als andere Grünen-Politiker moralisch aus dem Fenster gelehnt. Etwa, wenn es möglich gewesen wäre, Politiker der gegnerischen Parteien wegen deren Verfehlungen anzuprangern.

Das zentrale Problem, siehe das Heizungsgesetz, ist aber ein anderes: Die Bevölkerung erlebt jetzt zum ersten Mal ganz direkt, dass sie durch die Politik des Klimaministeriums erheblich belastet wird, um so die Lebenschancen zukünftiger Generation zu wahren. Deshalb wiegt es umso schwerer, dass nun durch den Fall Graichen der ohnehin herrschende Eindruck verstärkt wird, Habecks Ministerium habe als abgehobene Blase der familiär Eingeweihten und Eingeschworenen die Tuchfühlung zu den normalen Bürgern verloren. Dabei müsste der zur Lösung der Jahrhundertfrage fast verdammte Klimaminister eigentlich maximal gestärkt werden. Stattdessen wird er so weiter geschwächt.

tagesschau.de: Ist die "Causa Graichen" in der Geschichte der Bundesrepublik ohne Beispiel?

von Lucke: Solche Fälle gibt es immer wieder, übrigens vor allem bei CDU/CSU, da diese am längsten an den Trögen der Macht saßen. Denken Sie nur an die CSU-Amigo-Skandale, etwa noch jüngst im Falle der millionenschweren "Masken-Deals". Die Grünen haben allerdings das besondere Problem, dass sie andere, nämlich höhere moralische Maßstäbe an die Politik anlegen - und dass sie dadurch besonders angreifbar sind, weil sie nun an ihren eigenen Ansprüchen gemessen werden.

Und schließlich kommt beim "grünen Klüngel" ein besonderes Spezifikum hinzu: Klimapolitik ist von einem hochgradigen Idealismus getragen. Die Vorfeldorganisationen der Grünen, die NGOs, Öko-Institute und sonstigen Gruppierungen, sind oft aus ehrenamtlicher Arbeit hervorgegangen. Da ist Politik nicht selten gleich Leben. So geht aus der gemeinsamen politischen Arbeit am Ende so manche Ehe hervor. Das hat man bei der FDP-nahen Auto-Lobby eher weniger.

tagesschau.de: Sie haben kürzlich in der Zeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik" die Ampel-Koalition zu mehr Tempo aufgefordert, gleichzeitig aber prognostiziert, das brüchige Bündnis werde bis zum Schluss halten. Gilt das weiterhin?

von Lucke: Durchaus, denn der "Kitt der Macht" hat noch jede Koalition zusammengehalten. Das gilt vor allem dann, wenn - wie jetzt - alle drei Parteien bei Neuwahlen einen massiven Absturz fürchten müssten.

Und ironischerweise könnte die Causa Graichen die angeschlagene Koalition sogar befrieden. Denn sie schwächt Habeck und die Grünen enorm. Das ist schlecht für die dringend notwendige sozial-ökologische Transformation, aber gut für die FDP, die ja am meisten mit der Koalition hadert. Ihr bringt die Schwächung der Grünen Punkte. Und beides - geschwächte Grüne und eine gestärkte FDP - ist wiederum der ganz auf Verteidigung der Kanzlerschaft ausgerichteten Scholz-SPD durchaus genehm. Insofern herrscht bei FDP und SPD sicher eine gewisse Schadenfreude über die Schwächung der grünen Störenfriede.

Das Gespräch führte Thomas Vorreyer, tagesschau.de

In einer früheren Version wurde dem CDU-Abgeordneten Philipp Amthor eine Äußerung zugeordnet, die nicht er, sondern CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt getätigt hat. Wir haben den Satz entfernt.

Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen