An einer Hausfassade wurde "wir kriegen dich" aufgesprüht und später in "wir lieben dich" übersprüht.
hintergrund

Rechte Übergriffe "Man muss jederzeit mit Angriffen rechnen"

Stand: 18.09.2023 17:01 Uhr

In Deutschland haben rechte Gewalttaten und andere Angriffe zuletzt zugenommen. Die Entwicklung geht mit aufgeladenen politischen Debatten einher. Betroffen sind laut Beratungsstellen gleich mehrere Gruppen.

"Ihr habt kein Gefühl dafür, was es dieser Tage bedeutet, sichtbare Migrationsgeschichte in Deutschland zu haben." Das schrieb die Aktivistin und Journalistin Düzen Tekkal Anfang September auf Instagram. Hier braue sich etwas zusammen, das ihrer Familie Angst mache.

Zuvor war ein Restaurant angegriffen worden, das zwei Brüder Tekkals in Hannover betreiben. Graffitis mit dem Kürzel "AfD" und mehreren rassistischen Beleidigungen prangten auf den Fenstern des Ladens. In der Stadt gab es zuletzt auch Farbattacken auf eine Moschee, einen türkischen Verein und weitere Geschäfte. Laut NDR hat die Polizei mittlerweile einen Verdächtigen gefasst.

Angriffe auf Gedenkstätten

Ein ähnlich düsteres Bild wie Tekkal zeichnete zuletzt der Stiftungsdirektor von Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jens Christian Wagner. Er sagte tagesschau.de ebenfalls Anfang September, offene Angriffe auf Gedenkstätten hätten deutlich zugenommen. Wagner beklagte in dem Zusammenhang einen "erinnerungspolitischen Klimawandel".

Seitdem wurde unter anderem ein Hakenkreuz-Graffito auf dem Parkplatz der Gedenkstätte Buchenwald entdeckt. In München fand ein Mitarbeiter der Gedenkstätte Dachau das Symbol an seiner Wohnungstür vor. Jemand hatte das Hakenkreuz dort eingeritzt, so sein Arbeitgeber gegenüber der "Süddeutschen Zeitung".

In Eisenhüttenstadt bedrohten Unbekannte ebenfalls im September eine jugendliche linke Aktivistin. Neben Morddrohungen, die auf eine Mauer gesprüht wurden, fand sich auch ein Hakenkreuz-Graffito. Die Polizei nahm Ermittlungen wegen Bedrohung, der Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole und wegen Sachbeschädigung auf.

Mehr erfasste Taten

Eingang finden solche Taten in die Statistik der politisch motivierten Kriminalität des BKA. Die zeigt einen klaren Trend: Für die Monate des ersten Halbjahres 2023 lag die Zahl der erfassten rechtsmotivierten Straftaten jeweils deutlich über denen der beiden Vorjahre. Allein im Juni wurden 1.407 rechts gerichtete Taten erfasst, 6.992 waren es in der Summe. An rechtsmotivierten Gewalttaten fanden in der ersten Jahreshälfte 317 Taten Eingang in die Statistik - 2022 waren es noch 236 gewesen, vor zwei Jahren 216.

Das geht aus Anfragen der Linksfraktion im Bundestag hervor. In die Statistik zur politisch motivierten Kriminalität werden Ermittlungsverfahren ab dem ersten Anfangsverdacht aufgenommen. Die Zahlen dienen daher als Indikator für das Niveau solcher Taten.

Beobachtungs- und Beratungsstellen für Betroffene rechter Gewalt führen ebenfalls eigene Statistiken. Ihre Zahlen waren bislang immer höher als die der Behörden. Für 2022 listet der Bundesverband der Organisationen 2.093 Angriffe auf - für zehn Bundesländer. Die Verbände beklagen eine Untererfassung durch die Polizei, da diese rechtsmotivierte Taten nicht immer als solche einordne.

LGBTIQ-Community und Ukrainerinnen im rechten Fokus

Robert Kusche hat die Jahresbilanz mit vorgestellt. Er ist Geschäftsführer des Demokratievereins RAA Sachsen. Für verlässliche neue Zahlen sei es noch zu früh, sagt Kusche. Man bewege sich in Sachsen aber insgesamt auf dem konstant hohen Niveau der Vorjahre. Das liege zum Teil auch daran, dass sich die extreme Rechte neue "Politikfelder" erschließe.

So beobachte man zunehmend Angriffe auf LGBTIQ-Personen. Zuletzt war es zu Gegendemonstrationen, Pöbeleien und einem mutmaßlichen Anschlag mit Buttersäure auf CSDs in Döbeln in Sachsen, in Halle und in Weißenfels, beide in Sachsen-Anhalt, gekommen.

"Bei öffentlichen Veranstaltungen muss man aktuell jederzeit mit Angriffen rechnen", sagt Kusche. Das sei auch eine Folge der öffentlichen Debatte um das geplante Selbstbestimmungsgesetz.

Sorge vor dem Herbst

Auch Ukrainerinnen sowie Mitglieder, Mitarbeitende oder Büros der Grünen wurden laut Kusche zuletzt verstärkt Ziel von Angriffen. In Plauen und Wurzen wurden in den vergangenen Monaten mehrfach Treffpunkte der Zivilgesellschaft wie ein Mit-Mach-Café gezielt beschädigt.

Sorgen bereitet Kusche zudem der Herbst: Man erwarte dann eine "Zuspitzung der Auseinandersetzung um Geflüchtete". Viele Fragen wie die der Unterbringung seien nicht geklärt - oder würden schon jetzt von massivem Widerstand begleitet. In Sachsen wurden in den vergangenen Jahren wiederholt Unterkünfte attackiert. Der aktuelle Diskurs setze "Einzelne in das gefühlte Recht, im Sinne einer Mehrheit zu handeln", sagt Kusche.

Jüdische Menschen verunsichert

Organisationen wie RAA Sachsen beobachten seit Jahren, dass die Zahl der Vorfälle oft anlassbezogen steigt. Ein Beispiel dafür ist die Affäre um das antisemitische Flugblatt, in die der stellvertretende bayerische Ministerpräsident, Hubert Aiwanger, verwickelt war.

Annette Seidel-Arpacı leitet die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Bayern. Seit Beginn der Causa Aiwanger würden sich vermehrt bayerische Juden bei der RIAS melden, viele seien verunsichert und wütend, berichtet sie. Der Umgang mit der Flugblatt-Affäre werde als "unehrlich" empfunden, sagt Seidel-Arpacı. "Sie fragen sich, was frühere Versprechen noch wert sind."

Ministerpräsident Markus Söder hat zwar seit 2019 mehrfach gesagt, Bayern wolle "das sicherste Land für Juden in Deutschland sein". In der Flugblatt-Affäre entschied sich Söder dennoch gegen eine Entlassung Aiwangers.

Derzeit gebe es eine "geballte Ladung Schlussstrichforderung", sagt Seidel-Arpacı. Der Schub sei stärker als in den vergangenen Jahren. RIAS Bayern nehme sowohl online wie offline wahr, dass große Teile der Bevölkerung nichts mehr von der Schoah, also dem Holocaust, hören wollten. "Sie wollen ihre Ruhe haben und verorten die Kritik an Aiwanger ausschließlich als wahltaktisches Manöver", so Seidel-Arpacı.

"Schlag ins Gesicht"

Seidel-Arpacı kritisiert zudem, dass in der laufenden Debatte Sinti und Roma anders als jüdische Vertreter gar nicht befragt würden. Dabei seien die im Flugblatt bekannt gewordenen Mordfantasien von Auschwitz und Dachau "für Juden und auch Sinti und Roma ein Schlag ins Gesicht".

Auch der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, sorgt sich um die Stimmung in Deutschland. Das Ziel der aktuellen "gesellschaftspolitischen Klimaveränderung" sei die "Stärkung eines neuen Rechtsextremismus und Nationalismus", hieß es in einer Stellungnahme Roses Anfang September. Aiwangers Entschuldigung wies man in diesem Zusammenhang als "nicht ernst gemeint" zurück.

Warten auf Demokratiefördergesetz

Seidel-Arpacı von RIAS Bayern sagt, Veränderung würde in der aktuellen Lage in Bayern nur durch "eine tatsächliche gesellschaftliche Auseinandersetzung" erreicht.

Robert Kusche vom RAA Sachsen hingegen betont, es brauche schnell das bislang nicht beschlossene Demokratiefördergesetz auf Bundesebene. Denn damit könnten Projekte in der Betroffenenarbeit endlich langfristig abgesichert werden. Seit der Verabschiedung des Gesetzentwurfes durch das Kabinett im Dezember konnte sich die Ampelkoalition aber noch nicht auf eine finale Fassung einigen.