Auf einem AfD-Plakat in München steht "Hände weg von unseren Kindern".
Kontext

Queerfeindlichkeit Verstärkte Mobilisierung gegen queere Menschen

Stand: 17.07.2023 06:34 Uhr

Ob über Homosexuelle, Dragqueens oder trans Personen: Desinformation über queere Menschen ist in den sozialen Netzwerken allgegenwärtig. Aus Sicht von Experten kann das verheerende Folgen haben.

Von Carla Reveland und Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

"Irrer Streit in England: Vagina soll jetzt 'Bonus-Loch' heißen", titelt "Bild.de" am 9. Juli. In dem Artikel geht es um die britische Wohltätigkeitsorganisation Jo's Cervical Cancer Trust, die angeblich vorgeschlagen habe, das Wort Vagina in "vorderes Loch" oder "Bonus-Loch" umzubenennen, um trans Männer bei der Krebs-Vorsorge besser zu erreichen. Trans Mann beschreibt einen Menschen, dem bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde, der sich aber als männlich identifiziert. Doch nicht alle trans Männer unterziehen sich einer geschlechtsangleichenden Operation.

Das Thema griffen viele weitere Medien auf, auch in den sozialen Netzwerken wurde es oft geteilt. Dabei ist vieles an den Meldungen irreführend.

Zunächst einmal ist der Vorschlag der Organisation Jo's Cervical Cancer Trust bereits aus dem Jahr 2020 und somit drei Jahre alt. Zudem handelt es sich dabei um ein Glossar für medizinisches Personal, das Gebärmutterhalskrebsscreenings bei trans Männern oder non-binären Menschen durchführt. Das Wort Vagina soll nicht ersetzt werden, die Wörter "bonus hole" und "front hole" werden lediglich als alternative Wörter vorgeschlagen - mit dem Zusatz, dass es wichtig sei, welche Wörter jemand lieber verwenden würde.

Auf ihrer Website schreibt die Organisation dazu, dass die Verwendung der "richtigen Sprache", wenn man über die Geschlechtsidentität eines Menschen spricht, eine "einfache und wirksame Möglichkeit ist, Unterstützung und Anerkennung zu zeigen".

Rechte und TERFs machen Stimmung

Doch in rechten Kreisen sowie von sogenannten trans exkludierenden radikalen Feministinnen und Feministen (TERF) ist die Empörung groß. Britische und Deutsche TERF-Aktivistinnen und Aktivisten halten den Vorschlag für "widerwärtig" und "frauenfeindlich", schreiben etwa von der "Auslöschung der Frau".

Auch Norbert Kleinwächter, Stellvertretender Vorsitzender der AfD-Bundestagsfraktion, schreibt auf Twitter: "Frau mit Penis und jetzt Bonus-Loch. Es wird immer verrückter in dieser Welt der woken Transideologen." Sogenannte alternative Medien greifen das Thema auf und machen damit Stimmung gegen trans Personen. So heißt es etwa: "Der Wokeismus" sei der Religionsersatz dieser Tage oder "abstoßend", wer glaube, "der Transgender-Wahn hätte den Gipfel erreicht, irrt", bis hin zu "diese Leute" seien "schwer geistesgestört".

Trans Menschen stünden ganz besonders im Fokus von Desinformation, sagt Kerstin Thost, Pressesprecher*in des Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD). "In den vergangenen Monaten rund um die Debatte um das Selbstbestimmungsgesetz sehen wir nicht nur in Deutschland, sondern auch international einen verstärkten Angriff insbesondere auf trans Menschen." Es sei verstärkt eine Mobilisierung von Hass, Hetze und "Dämonisierung gegen LSBTIQ*" zu beobachten. LSBTIQ* steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, intersexuelle und queere Menschen.

Queere Menschen als übergriffig gegenüber Kindern dargestellt

Das Video einer Pride-Parade in New York ging diesen Sommer ebenfalls viral. In dem Clip sind Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu sehen, wie sie durch die Straßen gehen und Sprechchöre singen. Dabei ist auch der Spruch zu hören: "We're here, we're queer, we're coming for your children" (auf deutsch: "Wir sind hier, wir sind queer, wir kommen, um eure Kinder zu holen"). Queerfeindliche Gruppen sahen sich dadurch in ihrem Narrativ bestätigt, dass queere Menschen sexuell übergriffig gegenüber Kinder seien.

Allerdings ist überhaupt nicht klar, wer die besagte Zeile in dem Video ruft. Denn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die zu sehen sind, singen eindeutig "We're here, we're queer, we're not going shopping" - was übersetzt so viel bedeutet wie: "Wir sind hier, wir sind queer, wir sind nicht hier zum Einkaufen". Die Zeile mit den Kindern ist nur von Stimmen zu hören, die nicht im Video zu sehen sind und offenbar dicht an der Kamera stehen, weshalb sie so präsent sind.

Trotzdem erreichte das Video eine große Reichweite und wurde selbst in Deutschland verbreitet. Der ehemalige AfD-Fraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus, Georg Pazderski, twitterte dazu beispielsweise: "SIE sagen es selbst ganz offen, SIE sind hinter unseren Kindern her."

Mit diesem Narrativ wird unter anderem von der AfD gezielt Stimmung gegen queere Menschen gemacht. Anlässlich einer Lesung von Dragqueens für Kinder in München stellte die AfD Plakate mit dem Slogan auf: "Hände weg von unseren Kindern!" - darauf zu sehen ist eine vermeintliche Dragqueen, die nach einem verängstigt aussehenden Kind greift.

Argumentation mit vermeintlichem Kinderschutz

Dass queere Menschen als Gefahr für die Sicherheit von Kindern dargestellt werden, ist ein weit verbreitetes Desinformationsnarrativ, schreiben die schwedischen Wissenschaftler Cecilia Strand und Jakob Svensson in einem Briefing für das Europäische Parlament. Vor allem im Bildungsbereich werde damit versucht, Sexualerziehung zu verunglimpfen, indem Kinder beispielsweise als Opfer von Indoktrination gesehen würden. "Das Bild des unschuldigen und gefährdeten Kindes scheint besonders wirksam zu sein, um eine 'moralische Panik' auszulösen."

Dieses Narrativ werde von Gegnern der Gleichstellung bereits seit den 1970er-Jahren verwendet, sagt Thost vom LSVD. "Ein unaufgeregter und altersgerechter Umgang mit Themen der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt wird durch Rechtspopulist*innen und religiöse Fundamentalist*innen dämonisiert. Eltern, Kinder und Pädagog*innen sollen mit diesen Kampagnen verunsichert werden."

Doch gerade sexuelle Gewalt und Pädophilie wird von Desinformationsakteuren oft mit queeren Menschen in Verbindung gebracht. Die Europäische Beobachtungsstelle für digitale Medien (EDMO) schreibt in einer Analyse, dass es sogar so weit gehe, "fälschlicherweise zu behaupten, dass eines der Vorrechte der Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft gerade darin besteht, sexuelle Gewalt zu begehen, auch gegen Kinder und Tiere".

Widerstand gegen angebliche "Gender-Ideologie"

Eine angebliche "Diktatur" der queeren Philosophie ist laut EDMO ein weiteres weit verbreitetes Narrativ. Als vermeintliche Beweise würden fehlerhafte oder irreführende Meldungen herangezogen, denen zufolge Wörter wie Mutter verboten werden sollen - oder auch das eingangs erwähnte Beispiel der angeblichen Umbenennung der Vagina in "Bonus-Loch".

Ein in Deutschland benutzter Kampfbegriff diesbezüglich sei "Homo- und Translobby", sagt Thost vom LSVD. "Die Verwendung des Begriffs 'Lobby' manipuliert hierbei durch Assoziationen mit Machteinfluss, fehlender Transparenz und Verschwörung. Ansprüche auf Gleichbehandlung und Anerkennung sollen damit abgewehrt werden."

Auch Svensson und Strand schreiben in ihrem Briefing, dass zu den verbreitetsten Narrativen eine negative Fremdbestimmung oder der Widerstand gegen eine vermeintliche "Gender-Ideologie" gehört. Ebenso religiöse Motive wie die Wiederherstellung der "natürlichen Ordnung" und dem Schutz der "natürlichen" Familie spielten mit rein.

Wer verbreitet die Desinformation?

Svensson und Strand zufolge handelt es sich bei den Desinformationsakteuren um ein komplexes, internationales Netzwerk, welches von Familien bis hin zu Anti-Abtreibungsgruppen, religiösen Konservativen, Nationalisten und rechtsextremen Gruppen reicht.

In Deutschland werde Desinformation über queere Menschen am häufigsten von rechtskonservativen bis rechtsextremen Gruppen und Parteien verbreitet, aber auch von fundamentalreligiösen Organisationen, sagt Thost. Sie würden versuchen, Menschen anzusprechen, "die sich noch nicht klar gegen die Akzeptanz von LSBTIQ* positionieren und verunsichert sind - also Personen, die wenig oder keine Kontakte zu offen lebenden LSBTIQ* haben". Diese seien oft empfänglicher für Ideologien der Ungleichwertigkeit.

Die Desinformationen verfangen allerdings in einer breiten Mitte der Gesellschaft und werden von ihnen beispielsweise über soziale Netzwerke weiter verbreitet. Das trägt zu einem gesamtgesellschaftlichen queerfeindlichen Nährboden bei, der auch zu Hassstraftaten gegen die LSBTIQ*-Community führen kann.

Anstieg queerfeindlicher Gewalt

Die Zahlen der registrierten Fälle von Hasskriminalität gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche sowie queere Menschen steigt seit Beginn ihrer Erfassung 2001 stetig an. Allein im vergangenen Jahr registrierte die Polizei mehr als 1400 Straftaten. Laut Bundesinnenministerium fallen 1005 Straftaten in die Kategorie "sexuelle Orientierung", 227 davon seien Gewaltdelikte. 417 weitere Fälle wurden dem Themenfeld "geschlechtliche Diversität" zugeordnet, wovon 82 Gewalttaten waren. Seit 2018 haben sich die Zahlen der erfassten Straftaten um fast 200 Prozent erhöht.

Dabei bilden diese Zahlen nur die Taten ab, die auch angezeigt und ordentlich registriert werden. Die Dunkelziffer ist jedoch laut unterschiedlicher Expertinnen und Experten sehr hoch. So geht aus dem aktuellem Jahresbericht der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA) hervor, dass etwa 90 Prozent der Vorfälle in Deutschland nicht gemeldet werden.

Eine repräsentative Umfrage der EU-Grundrechteagentur aus dem Jahr 2020 stützt dies und kommt zu dem Ergebnis, dass nur 13 Prozent der von den Vorfällen betroffenen Befragten polizeiliche Anzeige erstatteten.

Doch nicht nur die geringe Anzeigenbereitschaft der Betroffenen führt zum hohen Dunkelfeld. Auch Defizite im Ermittlungsverfahren und eine lückenhafte statistische Erfassung seien Teil des Problems, heißt es in der Studie "Queerfeindliche Hasskriminalität in Deutschland" von Sarah Ponti. "Es gibt eklatante Forschungslücken hinsichtlich Ausmaß, Erscheinungsformen und Hintergründen queerfeindlicher Gewalt und über den Umgang von Sicherheitsbehörden und Justiz mit diesen Ausprägungen auf Hasskriminalität."

"Aus Worten können Taten werden"

LSBTIQ* seien weiterhin eine verwundbare gesellschaftliche Gruppe, sagt Sven Lehmann, Queerbeauftragter der Bundesregierung. "Zunehmend gibt es auch Übergriffe im Rahmen von CSDs. Angeheizt von gezielten Kampagnen richtet sich Gewalt gegen sichtbares queeres Leben und soll LSBTIQ* einschüchtern."

Auch Thost beobachtet einen "Backlash" als Reaktion auf die vergangenen politischen Erfolge für die Menschenrechte von queeren Personen. Mehr Sichtbarkeit bedeute nicht unbedingt auch mehr Sicherheit. "Die gezielte Verbreitung von Desinformationen über unsere Community zeigt uns, dass wir immer noch nicht als vollkommen selbstverständlicher Teil der Gesellschaft angenommen werden. Unsere Existenz wird als unglaubhaft diffamiert und in Frage gestellt."

Das sorge dafür, dass sich queere Personen im öffentlichen Diskurs, aber auch im öffentlichen Raum unsicher fühlen würden. "Aus Worten können Taten werden. Allein der Anblick einer Drag Queen, einer trans Person oder eines lesbischen oder schwulen Paares kann Gewalttäter motivieren, brutal zuzuschlagen. Wenn vor jedem verliebten Blick, vor einer Umarmung, vor einem Kuss im öffentlichen Raum zuerst die Umgebung gecheckt werden muss, ist das eine erhebliche Einschränkung von Freiheit", sagt Thost.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 05. Juli 2023 um 18:40 Uhr.