Zweifel an Lauterbachs Pflegereform Reform oder Reförmchen?
Vor allem die pflegenden Angehörigen sollten im Fokus stehen. Doch es hagelt Kritik am Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz, das der Bundestag nun beschlossen hat. Viele Betroffene sind enttäuscht.
Die Pflege seiner Frau fängt jeden Tag früh an bei Jochen Springborn. Um 6:30 Uhr Medikamentengabe, um 7:00 Uhr kommt der ambulante Pflegedienst zur Unterstützung. Derweil fängt der 54-Jährige um 7:30 Uhr schon mit seiner Arbeit im Homeoffice an. Um 8:00 Uhr versorgt er seine Frau mit Frühstück.
In diesem Rhythmus geht es weiter, manchmal bis 23:00 Uhr. Zweimal steht er nachts auf, um sich um seine Frau zu kümmern. Es sind lange Tage, kurze Nächte, wenig Zeit sich zu erholen.
Seine Frau ist an Multipler Sklerose erkrankt. Seit 20 Jahren ist sie pflegebedürftig und auf Hilfe angewiesen. Jochen Springborn kümmert sich zu Hause um sie. Neben einem Vollzeitjob, den er dank seines Arbeitgebers, der Evangelischen Schulstiftung in der EKBO, großteils im Homeoffice erledigen kann.
Von der Politik alleingelassen
Doch ohne die Hilfe eines Pflegedienstes, der mehrmals am Tag vorbeikommt, würde es nicht gehen. Bei Pflegegrad 5 übernimmt die Pflegekasse dabei etwa 2095 Euro. Die Kosten für den ambulanten Pflegedienst wären im vergangenen Jahr aber von 4000 Euro auf insgesamt 5300 Euro gestiegen. Der Eigenanteil hätte sich also von etwa 2000 auf 3300 Euro erhöht. Das konnte Jochen Springborn nicht schultern. Die Unterstützung durch den Pflegedienst musste er deshalb wieder reduzieren.
Jetzt wird nur noch die klassische Grundpflege übernommen. Weg fällt etwa die Hilfe bei der Essensversorgung und im Haushalt. Das heißt noch weniger Zeit für Jochen Springborn, um den Alltag zu bewältigen. Von der Politik fühlt er sich alleingelassen.
Anhebung der Pflegeleistungen "eine Ohrfeige"
Dass die Pflegeleistungen für die ambulante und häusliche Pflege im kommenden Jahr um 5 Prozent erhöht werden sollen und im darauffolgenden Jahr um 4,5 Prozent, empfindet Jochen Springborn als "Ohrfeige".
Seit 2017 sind diese Leistungen nicht mehr angehoben worden. Für ihn und seine Frau bedeutet die nun vorgesehene Erhöhung 104 Euro mehr pro Monat. Mehr Hilfe durch den ambulanten Pflegedienst können sie sich damit nicht leisten.
Kritik auch von den Sozialverbänden
Auch Sozialverbände sind nicht zufrieden mit der Anhebung. Angesichts der hohen Inflation sei das viel zu gering, sagt Verena Bentele vom Sozialverband VdK Deutschland. Die Pflegereform sei noch weit entfernt von einer echten Verbesserung.
Bentele kritisiert zudem, dass kein Online-Portal für bundesweit freie Pflegeplätze eingeführt werde. Oftmals müssten pflegende Angehörige lange suchen oder würden gar keinen Platz etwa für die Kurzzeitpflege finden.
Lauterbach verteidigt die Reform
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) dagegen verteidigt die Pflegereform. Kritik, es handele sich nur um ein "Reförmchen", weist der Minister zurück. Insgesamt würden 6,6 Milliarden Euro im Jahr zusätzlich zur Verfügung gestellt. Finanziert wird das über Beitragserhöhungen. Zudem wird der Beitrag stärker nach der Zahl der Kinder differenziert.
Tatsächlich ist in Lauterbachs Gesetz ein ganzes Bündel an Maßnahmen vorgesehen. Neben der Erhöhung des Pflegegelds für die Versorgung zu Hause um 5 Prozent werden auch die Zuschläge für Pflegebedürftige in stationären Einrichtungen angehoben.
Außerdem haben sich die Ampel-Fraktionen auf ein sogenanntes Entlastungsbudget geeinigt. Ab Juli 2025 können demnach Leistungen der Verhinderungs- und Kurzzeitpflege im Umfang von 3539 Euro flexibel kombiniert werden. Für Eltern pflegebedürftiger Kinder steht dieses Budget in Höhe von 3386 Euro schon ab Anfang 2024 zur Verfügung.
Unzufriedenheit in der Ampel
So ganz zufriedene Stimmen hört man trotzdem nicht, wenn man sich in der Ampel umhört. Da wäre noch mehr drin gewesen, heißt es vor allem von Seite der Grünen und der SPD.
Eigentlich hatte man sich im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, auch mehr Steuermittel in das Pflegesystem zu stecken. Etwa um Rentenbeiträge für pflegende Angehörige zu finanzieren oder pandemiebedingte Zusatzkosten, die den Pflegekassen immer noch nachhängen.
Opposition spricht von "Luftnummer"
Für die Opposition ist das eine offene Flanke. Die Union bezeichnet die Reform als "Luftnummer". Die Pflegeleistungen würden trotz der Ausweitung immer weiter hinter die Inflationsrate zurückfallen, sagt der gesundheitspolitische Sprecher Tino Sorge von der CDU.
Dabei hat es sein Parteikollege, der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn, selbst verpasst, das Pflegegeld für pflegende Angehörige in der vergangenen Legislatur anzuheben.
Krankenkassen vermissen Perspektive
Die Krankenkassen vermissen eine langfristige Perspektive für das Pflegesystem. Die Ampel fahre weiter auf Sicht, sagt die Vorstandsvorsitzende vom AOK-Bundesverband, Carola Reimann. Nach sechs Jahren Stillstand würden notwendige Leistungsverbesserungen im ambulanten Pflegebereich recht dürftig ausfallen.
Gleichzeitig erhalte die Soziale Pflegeversicherung weder die fünf Milliarden Euro Coronakosten zurück, die sie in der Pandemie ausgelegt habe, noch würden die Rentenbeiträge pflegender Angehöriger dauerhaft über Steuerzuschüsse finanziert. Stattdessen wende man die drohende finanzielle Schieflage kurzfristig allein über steigende Beiträge ab.
Reimann warnt, das schaffe aber höchstens bis zum Jahr 2025 Ruhe. Die erforderliche nachhaltige Lösung zur finanziellen Stabilisierung der Sozialen Pflegeversicherung werde weiter aufgeschoben.
Angehörige wollen weiter Druck machen
Jochen Springborn engagiert sich inzwischen beim Verein "Wir pflegen!". Er will dazu beitragen, dass die Pflege zu Hause sichtbarer wird und er hofft, dass sich viele pflegende Angehörige anschließen.
Nur mit mehr Druck werde die Politik tatsächlich spürbare Verbesserungen auf den Weg bringen. Kraft für den zehrenden Alltag schöpfe er vor allem aus der Liebe zu seiner Frau, sagt er.