Ukrainisceh Soldaten bedienen eine 155-mm-Haubitze M777.

Munitionsbedarf der Ukraine Hohe Nachfrage, geringes Angebot

Stand: 10.03.2023 11:56 Uhr

Im Abwehrkampf gegen Russland bittet die Ukraine um mehr westliche Munitionslieferungen. Doch die Verbündeten kämpfen mit vielen Problemen, derzeit scheint ein Drittel der Wunschmenge realistisch.

Von Oliver Neuroth, ARD-Hauptstadtstudio

Selbst wenn die NATO-Staaten es wollten, sie könnten der Ukraine nicht eine Million Geschosse liefern. Denn die Munitionslager des Westens sind kaum gefüllt. Allein in Deutschland fehlt laut Bundeswehrverband Munition im Wert von 20 bis 30 Milliarden Euro. Ein bekanntes Problem. Verteidigungsminister Boris Pistorius spricht beim Treffen mit seinen europäischen Amtskollegen in Stockholm Mitte der Woche von "Engpässen". Und er räumt ein: Wenn die NATO schon Waffensysteme an die Ukraine liefere, müsse sich auch um die Munition kümmern.

Das ist bisher nicht in ausreichender Menge passiert. Immerhin hat das Verteidigungsministerium im Februar 300.000 Schuss für die Flugabwehrpanzer "Gepard" bestellt. Es ist eines der Waffensysteme, die Deutschland an die Ukraine geliefert hat. Allerdings rechnet der Rüstungskonzern Rheinmetall damit, dass er die Munition für den "Gepard" erst bis zum Sommer liefern kann. Schneller funktioniert die Herstellung von Geschossen derzeit nicht.

"Wir haben verpasst, die Produktion hochzufahren"

Das Kernproblem: Die Rüstungsindustrie hat ihre Produktionskapazitäten in den vergangenen Jahren stetig abgebaut. Es gab einfach keinen nennenswerten Markt mehr für Waffen großen Kalibers - anders als noch zu Zeiten des Kalten Krieges. Aber mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine sei klar gewesen, dass sich die Lage ändern werde, sagt Rafael Loss von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations im Interview mit dem ARD-Hauptstadtstudio. "Wir haben verpasst, die Produktion damals schon hochzufahren." Das falle der NATO jetzt auf die Füße.

Denn die Herstellung von Munition ist mitunter komplex. Auch wenn einfache Geschosse im Wesentlichen nur aus einem Gehäuse, einem Zünder, Sprengstoff und eventuell noch einer Treibladung bestehen. Diese Treibladung erzeugt den Druck, um das Geschoss aus dem Lauf einer Waffe zu stoßen. Problematisch sei schon, diese Bauteile auf dem Weltmarkt zu beschaffen, erklärt Experte Loss. "Wir haben in der Corona-Pandemie gesehen, wie anfällig Lieferketten sein können. Und zum Beispiel bei den Sprengmitteln sind viele europäische Staaten abhängig von China." China, ein Staat, der an der Seite Russlands steht und seine eigene Waffenproduktion hochgefahren hat. Zwar wird auch in Europa Sprengstoff hergestellt - aber in vergleichbar kleinen Mengen.

Lange Produktionszeiten, hohe Kosten

Dazu kommt: Selbst wenn Sprengstoff vorhanden ist, dauert es oft noch Monate, bis er in ein Geschoss gefüllt werden kann. Er muss erst ausdünsten, bestimmte Gase müssen entweichen. Nur so kann die Munition zuverlässig in Waffensystemen funktionieren. Das zieht die Produktion aber in die Länge.

Die Ukraine braucht vor allem Artilleriemunition vom Kaliber 155 Millimeter. Das ist die Standardgröße für NATO-Waffensysteme, die auch der Ukraine geliefert wurden. Sowohl einfache Geschosse als auch komplexere Munition haben dieses Kaliber: Zum Beispiel Munition, die in einer bestimmten Höhe auseinanderbricht und sich verteilt.

Oder auch Geschosse mit einem GPS-Sender. Sie können per Satellitenverbindung mit einer Genauigkeit von wenigen Metern an ein Ziel gelenkt werden. Doch gerade solche Munition ist aufwändiger und damit noch zeitintensiver in der Produktion. Von den hohen Herstellungskosten ganz abgesehen.

Eine Million Schuss in weiter Ferne

Für Fachmann Rafael Loss steht fest: Um den Bedarf der Ukraine auch nur annähernd zu decken, muss die Rüstungsindustrie jetzt ihre Produktion hochfahren. In den USA, einigen baltischen Staaten und in Frankreich ist das schon passiert.

Rheinmetall hatte Ende vergangenen Jahres bekannt gegeben, den spanischen Munitionshersteller Expal zu übernehmen. Viele Rüstungsunternehmen können aber nicht einfach auf eigene Faust ihre Produktionsstätten ausbauen. Sie sind von Staatsaufträgen abhängig. Nur wenn also beispielsweise Deutschland einem Rüstungskonzern vertraglich zusichert, bestimmte Waffen langfristig abzukaufen, würden sich neue Fabriken überhaupt lohnen.

Es wäre eine indirekte staatliche Unterstützung der Rüstungsindustrie. Nach dem Willen der EU soll das sogar auf europäischer Ebene stattfinden. Bundesverteidigungsminister Pistorius nennt diesen Schritt "richtig und notwendig", gibt aber zu bedenken, dass ein solches Projekt mittelfristig gedacht ist. "Es darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir in den nächsten Wochen und Monaten die Engpässe bewältigen müssen."

Die Unterstützerstaaten der Ukraine werden ein weiteres Mal ihre Munitionsbestände auf den Prüfstand stellen. Sie stehen vor der schwierigen Entscheidung, was sie noch entbehren können, ohne die eigene Verteidigungsfähigkeit zu gefährden. Experten wie Rafael Loss halten es für realistisch, dass die Verbündeten der Ukraine kurz- und mittelfristig etwa ein Drittel ihrer Wunschmenge an Munition liefern kann: also etwa 300.000 Geschosse. Die eine Million Schuss bleiben erst einmal ein Ziel in weiter Ferne.

Oliver Neuroth, Oliver Neuroth, ARD Berlin, 10.03.2023 10:38 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 09. März 2023 um 23:57 Uhr.