Aufarbeitung des Lübcke-Mords Ein Untersuchungsausschuss, vier Meinungen
Juristisch ist der Fall längst abgeschlossen. Für den Mord an Walter Lübcke sitzt Rechtsextremist Stephan E. lebenslang in Haft. Jetzt geht die politische Aufarbeitung im hessischen Landtag zu Ende.
Wenn sich die Abgeordneten heute Nachmittag in Wiesbaden zum letzten Mal treffen, haben sie innerhalb von drei Jahren fast 2800 Akten durchforstet. In 43 Sitzungen hörten sie 55 Experten und Zeugen an - in einem Gerichtssaal sogar den von schwer bewaffneten SEK-Beamten bewachten Mörder selbst.
Doch es ist ein Ende im Streit. Von der Gemeinsamkeit der Demokraten, von allen Parteien nach der Tat beschworen, ist nicht mehr viel übrig. "Leider konnten sich die Fraktionen nicht auf einen gemeinsamen Bericht einigen", lautet das Fazit des Ausschussvorsitzenden Christian Heinz (CDU). Die Auseinandersetzungen im Gremium wurden zuletzt immer heftiger geführt.
Nun liegen vier konkurrierende Einschätzungen zu dem ersten Mord vor, den ein Rechtsextremist in der Bundesrepublik an einem Politiker verübte: dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Neben dem Bericht der schwarz-grünen Regierungskoalition haben SPD und FDP gemeinsam ein Sondervotum vorgelegt. Auch die Linke und die AfD kommen zu jeweils eigenen Bewertungen. Noch sind alle Berichte unter Verschluss.
Fehleinschätzungen bei Sicherheitsbehörden?
Der Ausschuss sollte der Frage nachgehen, ob den Sicherheitsbehörden vor dem Mord folgenschwere Fehler unterliefen. Wäre die Tat womöglich sogar zu verhindern gewesen? Wenn ja: Wer trägt die politische Verantwortung?
Die Landesregierung und das für Bekämpfung von Rechtsextremismus zuständige Innenministerium werden seit 24 Jahren ununterbrochen von der CDU geführt. Mit Ex-Ministerpräsident Volker Bouffier, dem amtierenden Regierungschef Boris Rhein und Peter Beuth mussten daher zwei frühere und der derzeitige CDU-Innenminister dem Ausschuss Rede und Antwort stehen.
E. war als rechtsextremistischer Gewalttäter mehrfach vorbestraft und seit 1999 vom Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) beobachtet worden. Als er im Juni 2019 den CDU-Politiker Lübcke auf der Terrasse von dessen Haus im nordhessischen Wolfhagen-Istha erschoss, weil er eine humane Flüchtlingspolitik verteidigt hatte, war E. längst nicht mehr auf dem Radar der Verfassungsschützer. Er galt als "abgekühlt".
Rechtsextremismus nicht im Fokus
Gerade in der Arbeit des LfV brachte der Untersuchungsausschuss unbestritten Mängel in der fraglichen Zeit zu Tage: Lange stand nicht der Rechtsextremismus im Fokus, sondern der Islamismus. Dass die rechte Szene vom Prinzip der straffen Organisation zu einer Strategie des "führungslosen Widerstands" überging, wurde bei der Beobachtung erst spät nachvollzogen.
Außerdem fehlte es an Personal und Qualifikation. Am deutlichsten wurde Alexander Eisvogel, von 2006 bis 2010 Präsident des hessischen Verfassungsschutzes, im Zeugenstand. "Jeder Bäcker lernt sein Handwerk gründlicher", sagte er zu den damaligen Zuständen.
Eisvogel war es auch, der 2009 in einem Lagebericht über die nordhessische Neonazi-Szene den Namen E.s markiert und mit dem Kommentar "brandgefährlich" versehen hatte. Der Vermerk blieb unbeachtet, als die Akte von E. später aus Datenschutzgründen für den Dienstgebrauch gesperrt wurde. Eine damalige Mitarbeiterin des Verfassungsschutzes schilderte den Abgeordneten, wie sie vergeblich zu verhindern versuchte, den Rechtsextremisten als vermeintlich ungefährlich ad acta zu legen.
Perspektive Wahlkampf?
Wie schwerwiegend die Mängel waren und ob sie inzwischen behoben sind - darüber gehen die Meinungen unter den Fraktionen weit auseinander. Dahinter stehen unterschiedliche Interessen und ein Termin: Am 8. Oktober ist in Hessen Landtagswahl. So wie die CDU mit Rhein haben auch die Grünen mit Vize-Ministerpräsident Tarek Al-Wazir und die SPD mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser ernsthafte Ambitionen auf den Ministerpräsidenten-Posten.
Die CDU hatte von Anfang abgewehrt, sie brauche den Untersuchungsausschuss gar nicht. Man habe zwar "an einzelnen Stellen weiteres Verbesserungspotenzial identifiziert", räumt ihr Ausschuss-Obmann Holger Bellino inzwischen ein. Schwere Fehler habe es aber nicht gegeben. "Der Mord an Dr. Walter Lübcke war nicht zu verhindern." Wortwörtlich haben sich auch Bouffier und Rhein vor dem Ausschuss so festgelegt.
Die Grünen sehen die Arbeit des Verfassungsschutzes zwar kritischer als der Koalitionspartner, verteidigen aber den gemeinsamen Bericht. Schuld an der Uneinigkeit sei vor allem die SPD. Die habe, so der Verdacht der Grünen-Abgeordneten Eva Goldbach, aus taktischen Gründen "ein unwürdiges Schauspiel" inszeniert. Denn in der Sache bestehe weitgehend Einigkeit. Das bestreitet SPD-Fraktionschef Günter Rudolph entschieden. Kern des Problems sei, dass das Regierungslager sich nach wie vor um die Frage der politischen Verantwortung für "katastrophale Fehleinschätzungen" beim Verfassungsschutz drücke.
Streit über das Verfahren
Die SPD fühlt sich schon dadurch brüskiert, dass Schwarz-Grün überhaupt einen eigenen Entwurf für einen Abschlussbericht vorgelegt hat. Gemäß dem eigens verabschiedeten neuen Untersuchungsausschussgesetz des Landes stand dieses Recht beim Fall Lübcke erstmals der Opposition zu. Doch dann lehnten CDU und Grüne den fertigen Entwurf der SPD als ungeeignet ab.
Am weitesten geht die Linke in ihrer Kritik. Wie schon im Fall der NSU-Morde liege "multiples Versagen der Sicherheitsbehörden" vor. Der Verfassungsschutz dürfe nicht gestärkt, sondern müsse aufgelöst werden.
Im Juli wird der Landtag über den Abschlussbericht und die drei konkurrierenden Bewertungen debattieren und abstimmen. Damit wird bei allem Streit immerhin der Zeitplan eingehalten. Die parlamentarische Untersuchung des Lübcke-Mordes sollte rechtzeitig bis zur Landtagswahl beendet sein. Der gleichzeitig laufende und nicht weniger zerstrittene Untersuchungsausschuss zu den rassistischen Morden von Hanau schafft nicht einmal dieses Minimalziel.