Ost-Grüne über Ampel "Praktisch kein Puffer mehr für Fehltritte"
Der Ampel-Streit um die Kindergrundsicherung geht weiter. Die sächsische Grünen-Abgeordnete Paula Piechotta mahnt im Interview, Konflikte sollten intern geklärt werden. Man dürfe die AfD nicht weiter stärken.
tagesschau.de: Frau Piechotta, die Ampel hatte sich einen Neustart vorgenommen. Warum ist der gleich mit der ersten Kabinettssitzung nach dem Kanzlerurlaub gescheitert?
Paula Piechotta: Die Performance der Ampel muss besser werden. Sie muss das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates wieder stärken. Gerade im Osten Deutschlands spüren wir, dass es praktisch keinen Puffer mehr für Fehltritte gibt. Wir müssen jetzt gestalten und nach außen ein besseres Bild abgeben. Sonst wird die AfD noch stärker. Das ist am vergangenen Mittwoch offensichtlich noch nicht gelungen.
Paula Piechotta sitzt seit 2021 für die Grünen im Bundestag. Die Finanz- und Gesundheitspolitikerin aus Leipzig leitet dort die Landesgruppe Ost der Fraktion.
tagesschau.de: Warum hakt es denn auch nach zwei Jahren Ampel an der Verständigung in der Koalition?
Piechotta: Unter Angela Merkel wurden 16 Jahre lang viele Fragen offen gelassen, von der Digitalisierung über die Sozialversicherungen bis zum Zustand der Verkehrsinfrastruktur. Dieser Reformstau hindert uns jetzt, den aktuellen Krisen wirkungsvoll zu begegnen. Man kann Probleme auch nicht immer mit Geld lösen, auch weil Merkel zu oft Steuereinnahmen dauerhaft an die Länder weggegeben hat. Hinzukommt, dass Dreierkoalitionen ohnehin schwieriger sind.
Deswegen ist es aber umso wichtiger, dass die dezentralen Akteure verstehen, wie diese Koalition funktioniert. Sie müssen jetzt klare Ansagen machen, dass die Performance wieder so gut werden wie im ersten Ampel-Jahr. Damals haben wir wahnsinnig viele Gesetze auf den Weg gebracht - gerade weil wir einen gemeinsamen Antrieb hatten: das Land modernisieren.
"Spirit der Ampel" wiederfinden
tagesschau.de: Sie glauben noch an die "Fortschrittskoalition"?
Piechotta: Bis heute führt der Verweis auf die GroKo-Jahre dazu, dass sich die gesamte Ampel unter einem Dach versammelt. Selbst in der SPD sagen sie: Bei allem Streit ist es großartig, dass man nicht nur den Stillstand verwaltet. Das muss wieder der Spirit der Ampel werden.
tagesschau.de: Schön und gut, aber diese Erkenntnis hätte es doch schon früher geben können.
Piechotta: Wir alle wissen, warum das zweite Ampel-Jahr nicht so konstruktiv verlief: Die FDP ist aus so vielen Landtagen geflogen. Und wenn das jetzt für die Ampel bedeutet, dass wir immer Pakete mit unterschiedlichen Gesetzesvorhaben schnüren müssen, dann ist das normal. So funktionieren Dreierkoalitionen. Das macht die Kenia-Koalition in Sachsen nicht anders.
"Urgrünes Interesse", Performance zu verbessern
tagesschau.de: Beim Twitternachfolger X haben Sie gerade geschrieben, als Grüne könnten Sie "noch mehr vom Erfolg der Fridays for Future und vom Misserfolg der Letzten Generation lernen". Was bedeutet das?
Piechotta: Kinder und Teenager sind zu den "Fridays for Future"-Demos gegangen - und am Abendbrottisch haben sich Eltern und Großeltern das angehört und sich zum ersten Mal wirklich mit dem Thema beschäftigt. Im Ergebnis ist die Akzeptanz für Klimaschutzmaßnahmen gestiegen. Das ist etwas, das wir Grünen noch besser verinnerlichen müssen. Man kann Klima- und Umweltschutz nur mit gesellschaftlichen Mehrheiten erreichen - und nicht allein als 15-Prozent-Partei in einer Dreierkoalition. Das heißt für uns, wir müssen unsere Kommunikation mehr auf die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz ausrichten. Das haben wir vor einem Jahr besser hinbekommen.
tagesschau.de: Wo wollen Sie anfangen?
Piechotta: Eine Regierung, die von zwei Dritteln der Bevölkerung in Umfragen als ablösungswürdig angesehen wird, ist keine Regierung, die besonders kräftige Reformen anstoßen kann. Es muss also ein urgrünes Interesse sein, dass das Ansehen und die Performance der Ampel wieder besser werden. Da darf man sich in der Koalition nicht gegenseitig schlechtreden - so genervt man manchmal auch sein mag.
Streit intern klären
tagesschau.de: Sie plädieren also dafür, dass man auch mal einsteckt - selbst dann, wenn einen ein Koalitionspartner angreift?
Piechotta: Nein, es ist einfach notwendig, dass wir wie jede gute Regierung die Konflikte intern klären. Letztendlich ist der öffentliche Streit oft nur eine Eskalationsmaßnahme. Nämlich dann, wenn man meint, dass man intern nicht weiterkommt. Manchmal spielt es auch eine Rolle, dass man sehr viel Applaus von der eigenen Parteibasis für solche Attacken bekommt - auch ich bekomme von meinen Parteimitgliedern den größten Beifall, wenn ich mich über die FDP aufrege.
Aber wir alle müssen endlich begreifen, dass uns das mittel- und langfristig mehr schadet - und vor allem auch unseren Zielen. Die Einführung der Kindergrundsicherung wird nicht wahrscheinlicher, wenn die AfD bei 25 oder 30 Prozent steht. Der Fortbestand der Kindergrundsicherung wird nicht wahrscheinlicher, wenn es nach der nächsten Bundestagswahl eine konservative Koalition gibt.
tagesschau.de: Wie viel Hoffnung stecken Sie in die Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg?
Piechotta: Die Ampel hat schon mehrfach gezeigt, dass die Kabinettsklausur ein sehr gutes Format sein kann, um zu guten inhaltlichen Lösungen zu kommen. Ich wünsche allen Beteiligten, dass sie es auch dieses Mal schaffen.
tagesschau.de: Und wenn nicht? Hält die Koalition bis zum Ende der Legislatur?
Piechotta: Wir haben einen Angriffskrieg auf europäischem Boden. Da sollte man nicht leichtfertig Neuwahlen ausrufen. Angesichts der Umfragewerte beider Parteien wird man außerdem bei SPD und FDP wenige Menschen finden, die dafür plädieren.
Das Gespräch führte Thomas Vorreyer, tagesschau.de