Freie Wähler in Sachsen "Kommunale Notwehr" oder Populismus?
In den Kommunen wächst die Unzufriedenheit. Die Freien Wähler in Sachsen wollen davon zwischen CDU und AfD profitieren - mit Grimmas populärem Oberbürgermeister Matthias Berger. Er polarisiert auch in seiner Stadt.
Matthias Berger mag es drastisch. Dass er für den sächsischen Landtag kandidiert, sei nicht weniger als ein "Akt kommunaler Notwehr" - gegen eine chronische Unterfinanzierung, gegen Bürokratie. "Wir haben Angst, dass wir unausweichlich gegen die Wand gefahren werden", sagt der Oberbürgermeister von Grimma.
"Wir", das sind fünf Bürgermeister, die bei der Wahl im September in den Landtag einziehen wollen. Aufgestellt haben sie die Freien Wähler. Der parteilose Berger ist ihr Spitzenkandidat.
Parteien als Auslaufmodell
Berger, Jahrgang 1968, übernahm 2001 das Grimmaer Rathaus. Zwei schwere Hochwasser - 2002 und 2013 - machten ihn als Katastrophenmanager bundesweit bekannt. Als "Macher von Grimma" (Leipziger Volkszeitung) meisterte er den Wiederaufbau. Bei seinen drei Wiederwahlen erhielt er 98, 90 und 86 Prozent der Stimmen.
Dass es ihn nun nicht mehr in Grimma hält, passt in die Zeit: Mit der Corona- und der Asyl-Debatte gewann die kommunale Ebene an Gewicht. Landrätinnen und Landräte sowie Bürgermeisterinnen und Bürgermeister gehören zum Inventar politischer Talkshows. Sie erklären dort, wie die Beschlüsse aus Berlin und Dresden vor Ort umgesetzt werden - oft geht es nur um das Wie, nicht das Ob.
Zu Bergers Forderungen gehören kostenlose Kitas, kostenlose Schulspeisungen und die steuerliche Entlastung junger Familien. Er stellt aber auch Grundsatzfragen: Berger will direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild. Mit der "Parteiendemokratie", die vor allem lange Parteizugehörigkeiten belohnen würde, "wird das nichts mehr", meint er.
Berger will Fördermittel weitestgehend abschaffen. Diese dienten nur "der politischen Einflussnahme" von Bund und Ländern. Rund 30 Fördermittelanträge der Stadt wurden laut Berger zuletzt abgelehnt. Im Fall einer Entlüftungsanlage für eine Grundschule klagt er jetzt.
Radikales Werben um Konservative
Grundsätzliches formuliert Berger radikal. "Der Staat degeneriert", sagt er. Das Fördermittelsystem sei "krank". Das Wort benutzt Berger oft. Die Grünen seien "die übelsten Polarisierer der Gesellschaft", Demokratieförderprogramme brauche es nicht. Politiker anderer Parteien nannte er auch schon "Polit-Zombies". Wo ist da der Unterschied zur AfD?
Die AfD stehe nicht in der Mitte, sagt Berger. Deren Forderungen wie Atomkraftwerke in Sachsen könne man nicht ernst nehmen. Dennoch wollen sich Berger und der Landesverband der Freien Wähler nicht an das Kooperationsverbot ihrer Partei mit der AfD halten. Sprich: Im Zweifel würde Berger im Landtag auch für einen AfD-Antrag stimmen.
Überhaupt, der Vorwurf, "rechts zu sein", werde benutzt, um jede Debatte um Veränderungen "abzuwürgen". So hat es Berger im Januar auf einer Demo von Landwirten gesagt. Immer wieder verweist er auf das sinkende Vertrauen der Menschen in Parteien, Staats- und Bundesregierung und auch Medien. Ohne Angebote wie die Freien Wähler drohe die aus seiner Sicht konservative Mehrheit der sächsischen Bevölkerung zwischen extremistischen Polen zerrieben zu werden.
Freie Wähler wollen trotzdem mitregieren
Bei der Landtagswahl vor fünf Jahren - die Freien Wähler kamen damals auf 3,4 Prozent - trat Berger nicht selbst an. Dass das heute anders ist, liegt an Thomas Weidinger. Der Wirtschaftsanwalt führt seit drei Jahren den Landesverband.
Die Freien Wähler können nur mit ihren kommunalen Spitzenkräften in den Landtag kommen, sagt Weidinger. Mit rund 60 parteilosen Bürgermeistern will er deshalb gesprochen haben. Berger stand ganz oben auf der Liste. Der sei "kommunal, bürgernah, sachorientiert" und spreche die Sprache der Menschen, sagt Weidinger. Bergers Formulierungen will er sich aber nicht zu eigen machen.
Weidinger hält dieses Mal zehn Prozent für möglich. Das erklärte Ziel lautet nicht Opposition, sondern: eine "bürgerliche Regierung" von CDU und Freien Wählern - diese könnte auch die AfD "kleinkriegen", so Weidinger.
Kann Grimma auf Berger verzichten?
Ein Direktmandat für Berger ist nahezu fest eingeplant. Aber wollen die Grimmaer ihren Oberbürgermeister ziehen lassen? Manche hätten ihm gesagt, das könne er nicht machen, sagt Berger. Es ginge aber nicht anders. Zudem gebe es "im linksgrünen Milieu" der Stadt wohl einige, "die die einmalige Chance haben, mich loszuwerden".
Damit meint er unter anderem Kerstin Köditz. Für die Grimmaer Landtagsabgeordnete der Linkspartei ist Berger ein "Rechtspopulist". Sie würde ihn allerdings lieber in Grimma "behalten, um Sachsen zu retten", scherzt Köditz.
Sie selbst tritt nicht wieder an, sondern will im Juni mit einem Bündnis in den Stadtrat: "Grimma zeigt Kante" dürfte die deutschlandweit erste Liste stellen, auf der eine Politikerin der Linken neben einem der FDP kandidiert. Spitzenkandidat ist der 19-jährige Jonas Siegert, ein Liberaler. Daneben finden sich ein Grünen-Mitglied und mehrere Parteilose.
Dahinter steckt ein gleichnamiges Bündnis, das sich laut Köditz und Siegert 2022 als Reaktion auf rassistische Vorfälle und extrem rechte Corona-Demos in Grimma gegründet hat. Seitdem organisiert "Grimma zeigt Kante" Gegenproteste und ein jährliches Demokratiefest in der Stadt.
Zu einer Demonstration gegen Rechtsextremismus Anfang Februar kamen mehrere Hundert Menschen. Oberbürgermeister Berger schaute nur kurz vorbei. Er war nicht als Redner eingeladen.
"Grimma zeigt Kante" mit Linken und FDP
Dass "Grimma zeigt Kante" jetzt für den Stadtrat antritt, läge zum einen an Parteien wie der AfD und den Freien Sachsen, zum anderen an Berger, sagt Köditz. "Entweder man steht auf seiner Seite - oder gegen ihn", beschreibt sie die Stimmung in der Stadt.
Siegert sagt, Berger habe als Oberbürgermeister viele Abhängigkeiten geschaffen. "Die politische Kultur in Grimma lässt deshalb kaum andere Meinungen zu." Ein von Siegert gegründetes "Jugendforum" hat die Unterstützung Bergers und der Stadt verloren, nachdem man begonnen habe, auch Kritik zu üben.
Ähnlich wie Berger im Landtag wollen Siegert und Köditz mehr Mitbestimmung und Demokratie in Grimma erreichen. Bündnisse wie ihres würden als Ansprechpartner für Menschen fungieren, die Angst vor einem Rechtsruck hätten, sagt Köditz. Und hier, beim Einsatz für die Demokratie, dürfe das Parteibuch keine Rolle spielen, sagt FDP-Mann Siegert: "Es geht um Kommunalpolitik und nicht um das Verbrenner-Aus."
"Grimma zeigt Kante" hofft auf ein zweistelliges Ergebnis bei der Stadtratswahl. Schon jetzt haben es Parteien dort schwer: 17 der 26 Stadträte kommen von Wählervereinigungen - auch dank der Unterstützung von Matthias Berger.