Corona-Aufarbeitung Wie unabhängig ist das RKI?
Der Konflikt über die Aufarbeitung der Corona-Politik schwelt weiter. Im Fokus stehen die Fragen: Wie viel Einfluss hatte die Politik? Und was steht in den veröffentlichten RKI-Protokollen?
Die Pandemie ist längst beendet, aber die Folgen beschäftigen viele noch immer. Es gab zahlreiche Regeln, von denen heute einige unvorstellbar wirken: Spielplätze wurden mit Flatterband abgesperrt, es war zeitweise verboten auf einer Parkbank zu sitzen, Bundesländer hielten ihre Grenzen geschlossen und eine Kugel Eis durfte nur im Abstand von 50 Metern zur Eisdiele gegessen werden. Was war wirklich nötig? Was lernen wir für die nächste Pandemie?
Die Regierungsparteien haben es bisher nicht geschafft, eine umfassende Aufarbeitung auf den Weg zu bringen. Und so hinterlässt Corona Spuren und viele offene Fragen. Dazu gehört auch die Frage, wie unabhängig das Robert Koch-Institut (RKI) während der Pandemie arbeiten konnte.
Wie groß war der Einfluss?
Das RKI ist dem Gesundheitsministerium unterstellt. Zu seinen Kernaufgaben gehört es Infektionskrankheiten zu erkennen und zu bekämpfen. Das Gesundheitsministerium hat dabei die "Dienst-, Fach- und Rechtsaufsicht", wie es im Juristendeutsch heißt. Das Institut ist weisungsgebunden und kann Aufträge aus dem Gesundheitsministerium nicht ablehnen. Es soll aber wissenschaftlich unabhängig forschen. Ein schwieriges Spannungsfeld: Wie groß war also der Einfluss, den die Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und Karl Lauterbach auf das RKI ausgeübt haben?
Diese Debatte bekam neuen Schwung mit der Veröffentlichung der Sitzungsprotokolle des Krisenstabs im Robert Koch-Institut. Eine Gruppe um die Autorin Aya Velazquez hatte sie ins Netz gestellt. Es ist nicht sicher, ob diese Protokolle echt sind. Sie beinhalten einige Fehler, Leerstellen und formelle Widersprüche. Das RKI selbst sagt, es habe die Echtheit der Protokolle nicht geprüft.
Bei der Lektüre der Protokolle, die mehrere Tausend Seiten umfassen, wird deutlich, wie das Institut darum rang, einen Überblick über die Lage zu bekommen. In einer Zeit, in der jeden Tag neue Erkenntnisse hinzukamen. Mehrfach in der Woche wurden weltweite Zahlen, Studien und Meinungen von Fachleuten zusammengetragen. Verschiedene Fachabteilungen des RKI brachten ihre Expertise ein und versuchten, daraus Empfehlungen auszuarbeiten, an denen sich die Politik orientieren konnte. Dabei waren sich auch die Wissenschaftler nicht immer einig.
"Eine derartige Einflussnahme ist ungewöhnlich"
Am 10. September 2021 hatte sich der Krisenstab um den damaligen RKI-Präsidenten Lothar Wieler wieder zu einer Videokonferenz zusammengeschaltet. Sie sprechen über ein Papier, das am Tag zuvor vom RKI veröffentlicht wurde. Darin geht es um die Kontaktnachverfolgung. Im Protokoll steht, dass dieses Papier auf "ministerielle Weisung" vor der Veröffentlichung ergänzt wurde. Demnach konnten sich Kontaktpersonen nach fünf Tagen freitesten. Es scheint, als hätten die Fachleute des RKI lieber einen vorsichtigeren Weg gewählt.
Das Einschreiten des Ministeriums sorgte für Irritationen: "Eine derartige Einflussnahme seitens des BMG in RKI-Dokumente ist ungewöhnlich", wird festgehalten. Der Leitungsstab prüfe die rechtliche Lage, gehe aber davon aus, dass das Gesundheitsministerium in diesem Fall eingreifen könne, weil es "die Fachaufsicht über das RKI hat" und man sich "als Institut nicht auf Freiheit der Wissenschaft berufen kann". Fazit der Runde: "Die wissenschaftliche Unabhängigkeit des RKI von der Politik ist insofern eingeschränkt."
Zweifel an Inzidenzwerten
Diskutiert haben RKI und Gesundheitsministerium auch immer wieder über die Frage: Wie wichtig nehmen wir Inzidenzen, also die Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner? Die Politik hat diesen Wert lange genutzt, um zu entscheiden, welche Maßnahmen in einem Landkreis oder Bundesland gelten.
Das RKI meldet im Jahr 2021 zunehmend Zweifel an, ob die Inzidenzwerte geeignet sind, um die Corona-Lage zu überblicken. Es nennt Inzidenzen sogar einmal "willkürliche politische Werte", denn eigentlich würden sie Infektionsgeschehen und Risiken immer unterschätzen. Im Mai 2021 zum Beispiel spricht sich das Institut gegen Lockerungspläne in Niedersachsen aus, obwohl die Inzidenz unter 35 liegt.
Im August beschließen die Ministerpräsidenten schließlich etwas, das eigentlich im Sinne der Wissenschaftler ist: dass die Inzidenz nicht mehr allein entscheidet, ob dem Gesundheitssystem gefährliche Überlastung droht.
Offenbar sucht das Gesundheitsministerium danach Hilfe beim RKI, um ein geeignetes "Indikatorenset" zu entwickeln, das wird bei der Sitzung des Krisenstabs am 11. August 2021 deutlich. Die Mitarbeiter diskutieren: Packt man die Krankenhauseinweisungen dazu oder die Impfquote? Am Ende müssen sie Grenzen aufzeigen: "Es sollte kommuniziert werden, dass das RKI nicht davon ausgeht, dass das komplexe Geschehen in einer Formel abgebildet werden kann."
Am Ende musste die Politik entscheiden
Die Inzidenzen werden in der Pandemie zu einem Beispiel dafür, was Politik einfordert und was Wissenschaft liefern kann - und dass beides nicht immer zusammen geht. Einen leicht erklärbaren Wert, dessen Auf und Ab jeder nachvollziehen kann - das wäre das Ideal.
Das RKI hat sich in diesem Fall unabhängig und anders als die Politik positioniert - schaffte es aber auch nicht, eine andere "Messgröße" bereitzustellen. Am Ende musste die Politik entscheiden. Dazu passt, welche Sicht auf die eigene Rolle das RKI im selben Protokoll festhält: Das Institut "sollte in sich stimmige Empfehlungen machen, die Umsetzung ist nicht Problem des RKI". Was bleibt, ist auch ein Kommunikationschaos gegenüber den Bürgern.
Dissens bei Gefährdung im Februar 2022
Einen Dissens gab es offenbar auch in Bezug auf die Frage, wann im Frühjahr 2022 die Gefährdungslage durch Corona heruntergestuft werden konnte. Zum einen geht es um den Zeitpunkt. In der Sitzung vom 9. Februar heißt es, eine Herabstufung vor der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) am 16. Februar "würde möglicherweise als Deeskalationssignal interpretiert, daher politisch nicht gewünscht". Die inhaltliche Diskussion wird vertagt.
In der MPK entscheiden sich Kanzler Scholz und die Länder dennoch für Lockerungen. Zum anderen geht es um die Gefährdungslage selbst. Ende Februar will das RKI das Risiko offenbar von "sehr hoch" auf "hoch" herunterstufen. Das Bundesgesundheitsministerium lehnt ab. Die Bewertung bleibt bei "sehr hoch".
Wie groß ist also das Problem der politischen Einflussnahme? Schon einmal gab es deswegen Aufregung im Netz. Dabei handelt es sich um eine Passage im März 2020, als es um die Hochstufung der Gefährdungslage ganz am Anfang der Corona-Pandemie ging. Im Frühjahr 2024 waren diese Protokolle nur mit weitreichenden Schwärzungen einsehbar. Auch die Person, die der Hochstufung zustimmen sollte, war geschwärzt. Die Spekulationen kochten hoch: Steckte ein Politiker dahinter? Wurde unter dem damaligen Minister Spahn politisch Einfluss genommen auf die wissenschaftliche Einschätzung des Instituts?
Dieser Vorwurf war schnell entkräftet. Bei dem geschwärzten Mitarbeiter handelte es sich um den damaligen Vizepräsidenten des RKI. Bundesgesundheitsminister Lauterbach wimmelte die Fragen der Presse ab. Das RKI habe unabhängig von politischer Weisung gearbeitet, so der Minister: "In die wissenschaftlichen Bewertungen des RKI mischt sich Politik nicht ein. Ich auch nicht."
Fragen, die beantwortet werden sollten
Doch nun zeigt sich: So einfach ist das nicht. In den Protokollen finden sich viele Graubereiche: Mal forderte das RKI strengere Maßnahmen und war unzufrieden mit den Beschlüssen der Politik. Mal sah das RKI Anzeichen für Entspannung, aber die Politik wollte dem noch nicht folgen. Und das Gesundheitsministerium hat auch auf die Bewertung des RKI eingewirkt, etwa wenn es um die Einschätzung der Gefährdungslage ging. Deutlich zu erkennen: Ein Spannungsverhältnis zwischen einer wissenschaftlich arbeitenden Behörde und den politischen Entscheidungsträgern. Und ein Institut, das bisweilen um seine wissenschaftliche Unabhängigkeit rang.
Das Bundesgesundheitsministerium antwortet heute auf Anfrage des ARD-Hauptstadtstudios nur knapp: "Das RKI hat während der Pandemie Empfehlungen abgegeben. Die politische Verantwortung liegt aber beim Ministerium." Eine Verantwortung, die wohl noch genauer aufgearbeitet werden muss. Wer hat wann wie entschieden? Welche Faktoren waren ausschlaggebend? Viele Fragen, die beantwortet werden sollten, auch um sich für die Zukunft besser aufzustellen.
Update vom 02.09.24: Inzwischen hat das RKI die Echtheit der veröffentlichten Krisenstabsprotokolle überprüft und bestätigt.