Nach dem Karlsruher Urteil Jetzt wackelt auch der "Doppel-Wumms"
Nach dem Urteil zum Klimafonds fehlen der Ampelregierung 60 Milliarden Euro. Doch die Folgen sind noch gravierender: Auch der 200 Milliarden Euro schwere Wirtschaftsstabilisierungsfonds dürfte vom Urteil betroffen sein.
Mit Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat heute ein hochrangiger Regierungsvertreter genau das öffentlich ausgesprochen, was von Verfassungsrechtlern und Ökonomen schon seit Tagen thematisiert wird: Die Folgen des Karlsruher Urteils zum verfassungswidrigen Nachtragshaushalt 2021 und zur Schuldenbremse sind weitaus heftiger als bislang vielfach diskutiert. Bisher ging es vor allem um eine Finanzierungslücke von 60 Milliarden Euro. In dieser Höhe dürfen Kreditermächtigungen aus dem Klima- und Transformationsfonds (KTF) nicht mehr in Anspruch genommen werden.
Jetzt kommen noch Probleme mit dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) hinzu. Habeck sagte heute im Deutschlandfunk, von dem Urteil seien auch alle anderen Sondervermögen des Bundes betroffen. Dies gelte auch für den WSF. In der Folge müssten sich Verbraucher und Unternehmen gegebenenfalls auf höhere Strom- und Gaspreise einstellen.
Grundsätzlich gilt: Nach der Schuldenbremse in Artikel 115 Grundgesetz darf der Bund außergewöhnlich hohe Schulden nur in Notsituationen aufnehmen. Der WSF wurde 2020 eingerichtet, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Pandemie abzufedern. Im Jahr 2022, nachdem der Ukraine-Krieg ausgebrochen war, wurde der Zweck des Fonds erweitert: Er soll nun auch helfen, die Folgen der Energiekrise besser bewältigen zu können.
Dabei wurde der WSF, der sogenannte "Doppel-Wumms", Ende 2022 ermächtigt, bis zu 200 Milliarden Euro an Krediten auf dem Kapitalmarkt aufzunehmen. Mit diesem Geld werden seitdem aus dem WSF unter anderem die bisherigen Strom- und Gaspreisbremsen finanziert. 2022 hatte der Gesetzgeber eine Notlage erklärt, um von der strengen Schuldenbremse abweichen zu können.
Starke Ähnlichkeiten mit dem Klimafonds KTF
Schaut man sich den WSF genauer an, stellt man fest: Er ist durchaus vergleichbar mit dem Klima- und Transformationsfonds KTF, dessen Konstruktion das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt hat. Einer der Kritikpunkte aus Karlsruhe war: Beim KTF hatte die Ampelregierung Kreditermächtigungen in Höhe von 60 Milliarden Euro, die ursprünglich zur Bewältigung der Corona-Pandemie gedacht waren, auf Vorrat für die Folgejahre angelegt.
Die Kredite sollten über mehrere Jahre verteilt für Klimaschutzprojekte verwendet werden. Das Verfassungsgericht urteilte, dass dieses Vorgehen gegen Regelungen zur Schuldenbremse in Artikel 115 Grundgesetz verstößt. Experten sprechen dabei von einem "Jährlichkeitsprinzip": Kredite müssen in dem Jahr abgerufen werden, in dem sie bereitgestellt wurden.
Das gleiche Problem stellt sich nun auch beim WSF: Auch dort wurde ein Großteil der Kreditermächtigungen für die Folgejahre auf Vorrat geparkt. Im laufenden Haushaltsjahr 2023 hat der WSF bisher rund 32 Milliarden Euro an Energiehilfen für Verbraucher und Unternehmen bereitgestellt. Im nächsten Jahr sollen weitere Gelder fließen und dafür Kredite aufgenommen werden.
Verfassungsrechtler halten das nach dem Karlsruher Urteil für äußerst problematisch, etwa der Berliner Staatsrechtler Alexander Thiele. Er hatte vorm Bundesverfassungsgericht die Ampel-Regierung als Prozessbevollmächtigter vertreten. Thiele sagte der ARD-Rechtsredaktion, der WSF sei ähnlich konstruiert wie der Klimafonds KTF, eben weil er Mittel für die Folgejahre bereitstelle. Daher müsse die Bundesregierung prüfen, ob die milliardenschweren Kreditermächtigungen des WSF nicht mehr berücksichtigt werden könnten.
Zu einem ähnlichen Schluss kommt der Heidelberger Verfassungsrechtler Hanno Kube, der vorm Bundesverfassungsgericht die klagende CDU/CSU-Bundestagsfraktion vertreten hatte. Auch er sieht verfassungsrechtliche Probleme, weil der Großteil der Kreditermächtigungen beim WSF auf Vorrat angelegt wurde. "Bei Notlagenkrediten müssen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Mittel immer im gleichen Jahr verwendet werden, sonst verfallen sie", so Kube. Gemessen daran wären alle Kreditermächtigungen im WSF bereits Ende 2022 verfallen.
Gravierende Folgen für den Bundeshaushalt
Spannend ist nun, wie die Bundesregierung mit der Problematik umgehen wird. Kommt auch sie zum Schluss, dass der WSF in seiner bisherigen Form verfassungsrechtlich nicht mehr haltbar ist, hätte das gravierende Folgen für den laufenden Bundeshaushalt. Die rund 32 Milliarden Euro, die der WSF dieses Jahr bereitgestellt hat, müssten aus anderen Quellen finanziert werden.
Eine Kreditaufnahme in dieser Höhe wäre nach derzeitiger Lage - die Verfassungswidrigkeit des WSF unterstellt - aber nicht möglich, da die Regierung gegen die Schuldenbremse verstoßen würde. Von dieser darf sie im Moment nicht abweichen, weil der Gesetzgeber - anders als 2022 - für 2023 keine Notlage erklärt hat. Und nur bei einer Notlage darf von der Schuldenbremse abgewichen werden. Bisher hatte Bundesfinanzminister Christian Lindner allerdings immer erklärt, 2023 die Schuldenbremse einhalten zu wollen.
Ausweg aus dem Schlamassel: die Notlagenklausel?
Die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken hat nun dafür plädiert, für 2023 und 2024 erneut eine Notlage auszurufen, um die Schuldenbremse nicht beachten zu müssen. Staatsrechtler Alexander Thiele hält die Inanspruchnahme der Notlagenklausel zumindest für eine denkbare Alternative: "Eine Option wäre zu sagen: Wir haben immer noch eine Energie- und Wirtschaftskrise durch den Angriffskrieg Putins." Nach Einschätzung von Verfassungsrechtler Hanno Kube erscheint dies der im Moment einzige realistisch gangbare Weg, um dieses Jahr eine Haushaltslücke von 32 Milliarden Euro stopfen zu können. In diesem Fall müsste die Ampelkoalition bis Ende des Jahres einen entsprechenden Nachtragshaushalt beschließen.
Doch einfach eine Notlage erklären, um deutlich mehr Schulden machen zu dürfen, ist nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts kein Selbstläufer. Dies sei an hohe Hürden geknüpft, so Kube. Die Bundesregierung müsste sehr sorgfältig darlegen und begründen, worin die Notlage bestehen soll. Außerdem müsste die Bundesregierung erläutern, worin der Zusammenhang zwischen der erklärten Notlage und den finanzierten Maßnahmen besteht. Die Anforderungen an die Begründungspflicht seien enorm, so auch Staatsrechtler Thiele gegenüber der ARD-Rechtsredaktion.
Neue Klage vorm Bundesverfassungsgericht denkbar
Sollte die Ampelkoalition sich dafür entscheiden, von der Notlagenklausel tatsächlich Gebrauch zu machen, könnte dies allerdings eine weitere Klage vorm Bundesverfassungsgericht nach sich ziehen. CDU-Chef Friedrich Merz hatte bereits damit gedroht, den WSF vom Verfassungsgericht überprüfen zu lassen, weil die Kreditaufnahmen des Fonds nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprächen.
Die Unionsfraktion hält ein erneutes Aussetzen der Schuldenbremse für 2023 ebenfalls für verfassungswidrig. Der haushaltspolitische Sprecher der Unionsfraktion Christian Haase sagte dem Handelsblatt, hier solle offenkundig ein verfassungswidriges Vorgehen beim WSF mit einem weiteren verfassungswidrigen Verhalten geheilt werden.