Debatte über Organspenden "Das Hirntod-Konzept ist paradox"
Seit Jahren stagniert die Zahl der Organspenden auf niedrigem Niveau. Während in Frankfurt Experten über Gegenmaßnahmen beraten, fordert Wolfram Höfling vom Deutschen Ethikrat im Interview mit tagesschau.de, die richtigen Fragen zu stellen: Was ist Tod? Und was ist Leben?
tagesschau.de: Transplantationsmediziner beraten in Frankfurt darüber, wie die Zahl der Organspenden gesteigert werden kann. Was sind Ihrer Einschätzung nach die Gründe dafür, dass die Spenderzahlen auf niedrigem Niveau stagnieren?
Wolfram Höfling: Es kommen mehrere Faktoren zusammen. Der Vertrauensverlust nach den Manipulationen bei der Organvergabe wirkt immer noch nach, vor allem, weil die Strukturen des deutschen Transplantationswesens höchst kompliziert und intransparent sind.
Spanien wird uns immer als leuchtendes Beispiel vorgestellt, weil dort häufiger Organe gespendet werden. Aber dort dürfen zum Beispiel auch Herztoten Organe entnommen werden, was bei uns gar nicht erlaubt ist. Spenden von Nieren stammen in Spanien zu 30 Prozent von Herztoten. Insgesamt aber gilt: Auch, wo Vergleiche zulässig sind, ist Deutschland eher schlecht aufgestellt, weil wir die notwendigen Diskussionen nicht offen führen.
Seit 1998 ist Wolfram Höfling Direktor des Instituts für Staatsrecht an der Universität Köln. Er leitet auch die Forschungsstelle für das Recht im Gesundheitswesen. Höfling engagiert sich in der Deutschen Stiftung Patientenschutz und gehört dem Deutschen Ethikrat an.
"Was wissen wir wirklich über den Hirntod?"
tagesschau.de: Welche Rolle spielt dann die Diskussion über den Hirntod? Auch im Deutschen Ethikrat gibt es ja unterschiedliche Auffassungen darüber, ob der Hirntod hinreichendes Kriterium ist, um den Tod eines Menschen festzustellen.
Höfling: Die unterschiedlichen Auffassungen kommen nicht von ungefähr, denn das Hirntod-Konzept ist ja wenig anschaulich. Es ist per se paradox, sich einen Toten, eine Leiche vorzustellen, die ihrerseits lebende Organe spenden kann. Dazu kommt, dass die wesentlichen Fragen in diesem Zusammenhang so gut wie nie öffentlich gestellt werden: Was ist Leben? Was ist Tod? Was wissen wir wirklich über den Hirntod? Und wie sieht das Sterben aus, das wir wollen?
Viele Menschen drücken inzwischen ihre Vorstellung von ihrem Sterben mithilfe einer Patientenverfügung aus und lehnen einen übermäßigen Einsatz von Technik ab. Das aber passt nur sehr schlecht in den Kontext einer Organtransplantation.
tagesschau.de: Inwieweit?
Höfling: Organe zu transplantieren, ist ein hochkomplexer und hochtechnisierter Vorgang, der lange vor der eigentlichen Entnahme beginnt. Wenn wir davon ausgehen, dass mit der Hirntod-Diagnose der Tod eintritt, muss der Sterbeprozess der Organe aufgehalten werden. Es finden Behandlungen statt, die nicht mehr im Interesse des Patienten sind, sondern im Interesse derjenigen, die eventuell Herz, Niere oder Lunge erhalten. Darüber fehlt es aber an öffentlicher Kommunikation.
Unbehagen auch bei Ärzten und Ärztinnen
tagesschau.de: Wirkt eine offene und direkte Kommunikation nicht unter Umständen auch abschreckend und birgt das Risiko, dass die Spenderzahlen noch weiter zurück gehen? Dass mehr Menschen sterben, bevor sie ein passendes Organ bekommen?
Höfling: Das mag sein, aber ich glaube nicht, dass das Verschweigen von Problemen zu Lösungen führt. Wir können dem Problem auch nicht ausweichen. Es stellt sich spätestens dann, wenn im Krankenhaus mit den Angehörigen gesprochen werden muss, denn die müssen in der Regel entscheiden, weil nur die wenigsten einen Organspendeausweis haben.
Wenn eine Gesellschaft breit diskutiert und sich breit informiert, sind auch andere Lösungen als die Zustimmungsregel, die wir jetzt haben, vorstellbar. Wir erleben immer wieder, dass Krankenhäuser potenzielle Organspender nicht melden, weil die Ärzte und Ärztinnen skeptisch sind, ob der Umgang mit den Spendern und ihren Organen der richtige ist. Machen wir uns nichts vor: In der Transplantationsmedizin ist das Leben des einen Menschen nur möglich, weil auf der anderen Seite der Tod eines anderen Menschen steht. Das ist und bleibt eine tragische Situation.
Der Deutsche Ethikrat besteht aus 26 Mitgliedern, die ethische Fragen aus unterschiedlichen Blickwinkeln diskutieren. Dazu zählen unter anderem Mediziner, Juristen, Philosophen und Ökonomen. Den Vorsitz hat derzeit der Theologe Peter Dabrock inne.
Die Mitglieder des Ethikrats dürfen keinem Parlament und keiner Regierung angehören. Intensiv hat sich der Ethikrat zum Beispiel mit der Frage auseinander gesetzt, ob der Hirntod hinreichendes Kriterium für den Tod eines Menschen ist. Die Meinungen darüber gehen auseinander. Einig ist man sich aber dahingehend, dass hirntoten Menschen Organe entnommen werden dürfen.
Gesetz mit Konstruktionsfehler
tagesschau.de: Bevor der Hirntod festgestellt wird, sind zahlreiche Untersuchungen notwendig. Unter anderem wird die Reaktion des Patienten auf Schmerz getestet. Ist das juristisch einwandfrei und ethisch vertretbar?
Höfling: Die Tests sind zwingend erforderlich, um eine Hirntod-Diagnose zu stellen. Sie finden zu einem Zeitpunkt statt, wo sie nach menschlichem und ärztlichem Ermessen weder juristisch noch ethisch problematisch sind.
In Deutschland ist aber die Frage der vorbereitenden Maßnahmen unzureichend geregelt, der Organ-protektiven Maßnahmen im Vorfeld der Hirntod-Diagnose, die ich eben beschrieben habe. Angehörige sind erst nach der Diagnose entscheidungsbefugt und nicht Tage vorher. Das ist ein Konstruktionsfehler des Gesetzes.
"Differenzierte Vorstellung von Tod"
tagesschau.de: Der Philosoph Ralf Stoecker hält Hirntote weder für Lebende noch für Tote, sondern für Menschen in einem Zwischenstadium. Welche Konsequenzen hat diese Betrachtungsweise für die Transplantationsmedizin?
Höfling: Will man die Veränderung des Körpers beschreiben, ist die Ansicht Stoeckers, die auch von einigen Mitgliedern des Ethikrats vertreten wird, durchaus hilfreich. Juristisch aber kommen wir mit dieser Konstruktion nicht weiter, und das sage ich jetzt als Verfassungsrechtler: Entweder man ist lebendig und hat ein Grundrecht auf Leben, oder man ist nicht mehr lebendig und hat auch dieses Grundrecht nicht mehr.
Selbst wenn ich mir einen dritten Zustand vorstelle, würde der bedeuten, dass es sich nicht um Tote handelt. Von daher bleibt die Frage in aller Schärfe, wann wir Organe entnehmen dürfen. Die individuelle Definition von Tod ist ohnehin weit differenzierter als die bipolare Vorstellung, die nur Leben und nur Tod kennt.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de