Wirtschaftspolitik Warum der Handwerkspräsident Proteste vermeiden will
Im Handwerk rumort es. Dass Massenproteste ausbleiben, liegt auch an Verbandschef Jörg Dittrich. Er will die Bundesregierung auf anderen Wegen von einer Wirtschaftsreform überzeugen.
Am Ende wünscht sich Jörg Dittrich einen einzigen Satz: "Die Politik hat bis heute nicht gesagt: Wir haben verstanden." Er meint damit: verstanden, wo die Ängste und Nöte der Handwerksbetriebe liegen.
Dittrich ist Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH). Seit Januar 2023 vertritt der Dachdeckermeister aus Dresden über eine Million Betriebe mit rund 5,7 Millionen Beschäftigten. In dieser Zeit ist Deutschlands Wirtschaft nicht gewachsen, sondern leicht geschrumpft.
Aufbruchssignal gesucht
Die Wirtschaft stehe "vor großen strukturellen Herausforderungen", Frust und Verunsicherung wachsen - so hat es Dittrich mit anderen Verbandschefs gerade in einem Brief an den Bundeskanzler geschrieben. Es brauche ein "kräftiges Aufbruchssignal" und "langfristig verlässliche, wirtschaftsfreundliche Rahmenbedingungen".
Dabei lesen sich die Konjunkturdaten des ZDH besser als die anderer Wirtschaftsbereiche. Von einem "insgesamt stabilen Geschäftsumfeld" ist Ende 2023 die Rede. Der Gesamtumsatz im Handwerk stieg - auch inflationsbedingt - im gesamten Jahr um 9,3 Prozent auf 735 Milliarden Euro.
"Noch ist die Stimmung schlechter als die wirkliche Lage", sagt Dittrich bei einem Treffen Mitte Februar. Aber das Handwerk sei auf dem Weg dahin, dass sich Stimmung und Lage angleichen. Dittrichs größtes Sorgenkind ist der Wohnungsbau. Der drohe zum Erliegen zu kommen. "Derzeit wird kaum mehr Neues begonnen."
Wenige Tage nach dem Gespräch veröffentlicht der ZDH neue Zahlen. Fast die Hälfte der Betriebe erwartet einen Umsatzrückgang im ersten Quartal 2024. Nur sieben Prozent gehen momentan von einem Plus aus. Längst baut sich das Auftragspolster, das viele Betriebe hatten, ab.
Von Bundesregierung enttäuscht
Dittrich hat dafür eine Vielzahl von Gründen ausgemacht. "Bei Steuern, Abgaben, Bürokratie sind die Lasten für die Betriebe nur schwer und teils kaum noch zu stemmen", sagt er. Besonders alarmiere ihn, dass jeder zweite Betrieb Investitionen zurückstellt. Das liege auch an fehlender "Planungssicherheit und Verlässlichkeit politischer Entscheidungen".
Deutschland ist also nicht mehr wettbewerbsfähig. Das sieht nicht nur Dittrich so, sondern neuerdings auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und Bundesfinanzminister Christian Lindner. Für Dittrich sind deshalb Steuersenkungen für Unternehmen, eine Zinsstützung im Bau und zumindest die testweise Aussetzung einzelner Verordnungen, Nachweispflichten und Vorgaben notwendig. Was die Ampelkoalition stattdessen auf den Weg gebracht hat, reiche nicht aus.
Das Wachstumschancengesetz? Dittrich sagt, er habe noch nicht das Gefühl, dass das Gesetz die dringend benötigte Trendumkehr bewirken könne, "wenn es dann irgendwann überhaupt das Licht der Welt erblicken sollte".
Die Kraftwerksstrategie, die die Bundesregierung bis Sommer beschließen will? Die Wirtschaft brauche "wettbewerbsfähige Energiepreise mit einem verlässlichen und grundlastfähigen Energieangebot". Aber weiterhin sei nicht klar, ob die Strategie funktioniert und ob sie finanzierbar ist. "Das verunsichert und frustriert die Leute", so Dittrich.
Das Bürokratieentlastungsgesetz, dessen Entwurf der zuständige Justizminister Marco Buschmann vorgelegt hat? Keine tatsächliche Entlastung. "Seinem Namen jedenfalls wird dieses Gesetz nicht gerecht", sagt Dittrich. "Und damit ist wieder Vertrauen verloren gegangen."
Handwerker drängen auf Protest
Diese Stimmung treibt nicht wenige Handwerker auf die Straße. Bei den Protesten der Landwirte mischen sie vielerorts mit. Am vergangenen Wochenende blockierten Bauern und Handwerker zeitweise den Grenzverkehr nach Polen in Frankfurt an der Oder.
In München demonstrierten Ende Januar etwa Zehntausend Menschen gegen die Politik der Ampel-Regierung, darunter auch viele Handwerker. Das Motto damals: "Mittelstand steht auf". In Flensburg veranstalteten Handwerker einen Protestkonvoi mit 450 Fahrzeugen.
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine haben Handwerker auch Proteste gegen Russland-Sanktionen und die Energiepolitik organisiert. In Dessau und Dresden nahmen an solchen Demonstrationen einige Tausend Menschen teil.
Im Fokus politischer Debatten stehen allerdings die Bauern. Und als der Deutsche Bauernverband mit dem Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) Mitte Januar vor das Brandenburger Tor zog, fehlte der ZDH.
Dabei drängen die eigenen Verbandsmitglieder Jörg Dittrich beinahe täglich dazu. "Wir haben noch nie so viele Aufforderungen erhalten, als Verband solche Demonstrationen zu organisieren", sagt Dittrich. Stattdessen hält er den Deckel drauf. "Wirtschaftspolitik sollte nach meinem Verständnis nicht auf der Straße gemacht werden", so Dittrich.
Abgrenzung von Vereinnahmungsversuchen
Der Verband forderte stattdessen im Januar seine Mitglieder dazu auf, für symbolische zehn Minuten die Arbeit ruhen zu lassen. Die fünf ZDH-Kernforderungen wie "Belastungen bei Steuern und Abgaben senken" gab es dazu als Stichpunkte auf einer Postkarte.
Dittrich sucht den Dialog mit der Politik ohne Drohkulisse. Sein Verband trete zudem "Extremismus - gleich aus welcher Richtung" entgegen, sagt er. Schon jetzt würden Debatten über Themen wie "Remigration" Deutschland unakttraktiver als Zuwanderungsland machen.
Handwerker hatten mitunter auch an Demos mit Rechtsextremen teilgenommen. Die AfD umwirbt den Berufsstand. Mit ihrem Bundessprecher Tino Chrupalla, einem Malermeister aus Görlitz, inszeniert sie sich als "Partei des deutschen Handwerks".
Habeck will Bürokratieabbau prüfen
Am Mittwoch dieser Woche öffnet dann der Kongress "Zukunft Handwerk" in der Messe München. Dittrich sitzt mit Robert Habeck und Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder auf einem Podium.
Eben noch hat er Habeck rund 40 Vorschläge "zur Entflechtung des Paragrafen-Dschungels" überreicht. Die Liste wird vom Handwerksverband seit vier Jahren geführt. Es geht um digitale Allergenhinweise statt Kladden auf der Bäckertheke, Ausnahmeregelungen bei Verpackungsauflagen, die Abschaffung von halbjährlichen Führerscheinkontrollen in Firmen.
Auf der Bühne wiederholt Dittrich den Satz aus dem Interview: "Wir haben die große Erwartung, dass die Politik sagt: Wir haben verstanden." Habeck antwortet: Die Ampel-Regierung habe sich seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine vor allem um die Umstellung der Energieversorgung kümmern müssen. Aber warum sollte, was da "doppelt und dreimal so schnell funktioniert" habe, nicht auch in anderen Bereichen gelten, fragt Habeck.
Deutschland müsse von einem "System der absoluten Rechtssicherheit" hin zu einem "System der Verantwortungsbereitschaft" kommen. Habeck verspricht, ein eintägiges Treffen aller zuständigen Ministerien abzuhalten, um die Vorschläge des ZDH zu prüfen.
Für Jörg Dittrich geht es am Freitag weiter. Dann trifft er die Chefs von BDI, BDA und DIHK zum "Spitzengespräch der deutschen Wirtschaft". Der Gast der vertraulichen Runde: Bundeskanzler Olaf Scholz.