Ein Windrad vor einer Ortschaft auf der Schwäbischen Alb.

Initiativen gegen Windkraft Großer Protest oder nur ein Scheinriese?

Stand: 29.09.2024 09:37 Uhr

440.000 Einsprüche gegen Windkraft allein in einer Region in Baden-Württemberg: Mit Papierbergen wollen Bürgerinitiativen zeigen, wie groß der Protest ist. Doch die Zahl in diesem Fall ist trügerisch.

Von Tobias Faißt, SWR

Wo Windräder geplant werden, wird protestiert. Klagen und Bürgerentscheide beschäftigen Gerichte und Verwaltungen in ganz Deutschland. Ein Beispiel aus Baden-Württemberg zeigt, dass der Protest teilweise abstruse Größenordnungen annimmt: Die Bürgerinitiative "Gegenwind Neckar-Alb" hat etwa 440.000 Stellungnahmen gegen geplante Windkraftflächen allein in der Region Neckar-Alb gesammelt.

280.000 davon haben die Mitglieder ausgedruckt und dann beim Regionalverband abgeliefert. Die Regionalverbände haben in Baden-Württemberg die Aufgabe, sogenannte Vorranggebiete für Windkraft auszuweisen.

Region Neckar-Alb ragt heraus

Auch bei anderen Regionalverbänden in Baden-Württemberg wurden bei Öffentlichkeitsbeteiligungen Tausende Einsprüche eingereicht. Schwarzwald-Baar-Heuberg beispielsweise liegt auf Platz zwei. Mit 16.000 Stellungnahmen ist der Abstand zum Spitzenreiter Neckar-Alb aber enorm.

Bis September 2025 müssen die Vorranggebiete für die Windkraft ausgewiesen sein. Stehen diese fest, können Kommunen außerhalb davon Windräder verbieten. Dieses Mitspracherecht verlieren die Städte und Gemeinden, wenn die Frist nicht eingehalten wird. Mindestens 1,8 Prozent der Regionsfläche müssen für Windenergie ausgewiesen werden. Ähnlich lautet der Auftrag für Regionalverbände in anderen Bundesländern - mit anderen Fristen.

Unnötige Papierberge produziert

Kurz gesagt: Stehen Vorranggebiete nicht rechtzeitig fest, dürften Windparks auf noch mehr Flächen entstehen. Windkraft-Befürworter werfen der Bürgerinitiative, die für die Einsprüche verantwortlich ist, vor, die Planungen ausbremsen zu wollen. Herbert Bitsch, Mitbegründer von "Gegenwind Neckar-Alb", kontert: "Das würde uns ja überhaupt nichts bringen." Er bezieht sich darauf, dass ein Scheitern der Planungen ja noch mehr Windräder bedeuten könnte.

Tatsache ist: Die Initiative hat unnötige Papierberge produziert. Bitsch und seine Mitstreiter haben die Einsprüche online mit vorgefertigten Stellungnahmen gesammelt. Erst dann wurde der Großteil ausgedruckt, teilweise in Briefumschläge gesteckt und beim Regionalverband abgeliefert. Obwohl die Möglichkeit bestand, auch alles digital abzugeben.

Der Bundesverband WindEnergie (BWE) fordert, Verfahren möglichst schnell komplett zu digitalisieren. "Mit solchen Aktionen pervertieren die Anti-Windenergie-Initiativen im Übrigen die wichtige Beteiligung der Menschen in Verfahren", kritisiert BWE-Geschäftsführer Wolfram Axthelm mit Blick auf den konkreten Fall in der Region Neckar-Alb.

Ein Mann transportiert mehrere Kartons auf einem Ziehwagen.

In 718 Kartons haben Bürgerinitiativen ihre analogen Einsprüche gegen die Planungen zu Windkraft in der Region Neckar-Alb abgegeben. Noch immer läuft die Digitalisierung.

Massenprotest oder Scheinriese?

Aus dem digitalen Teil der Einsprüche konnte der Regionalverband erste Schlüsse ziehen. "Zum Teil haben einzelne Personen bis zu 140 Einzelbriefe abgegeben", sagt Dirk Seidemann, Direktor des Regionalverbands Neckar-Alb.

Das würde bedeuten, dass die Anzahl der Menschen hinter den Einsprüchen deutlich kleiner ist, als es auf den ersten Blick scheint, vergleichbar mit dem Scheinriesen Herrn Tur Tur im Kinderbuch Jim Knopf. Vor ihm zittert der kleine Lokomotivführer auch nur aus der Ferne. Kommt er ihm näher, wird er immer kleiner und kleiner, bis er ein normal großer Mann ist. Ganz so leicht wie im Buch schrumpft das Problem für den Regionalverband im echten Leben jedoch nicht. Eher im Gegenteil.

Die Stadtwerke Tübingen bauen über die Region hinaus Windkraftanlagen. "Die Bereitschaft, einen hohen Aufwand zu betreiben, um Windkraft zu blockieren, scheint in der Region Neckar-Alb in den letzten Jahren genauso gestiegen zu sein wie anderswo in Deutschland", teilt der Energieversorger auf Nachfrage mit. Die Öffentlichkeitsbeteiligung in der Region Neckar-Alb ist ein krasses Beispiel, dem andere folgen könnten.

Kaum Erfahrungen mit Windanlagen

Dass sich die Papierberge ausgerechnet in der Region Neckar-Alb stapeln, könnte daran liegen, dass die Menschen dort bislang kaum Erfahrungen mit Windanlagen haben. Denn in den Kreisen Tübingen, Reutlingen und Zollernalb gibt es nur wenige Windräder.

Von der neuesten Generation noch gar keine, sagt Verbandsdirektor Seidemann. Die Stadtwerke Tübingen ergänzen: "Aus den Projekterfahrungen der letzten Jahre konnten wir feststellen, dass in den Regionen, wo es bereits Windkraftanlagen gibt, die Akzeptanz für neue Windkraftprojekte höher ist."

Forderung nach Digitalisierung der Verfahren

Bürgerinitiativen sind untereinander gut vernetzt. Wie bei "Gegenwind Neckar-Alb" schließen sich einzelne mittlerweile gezielt zusammen, um mehr Gewicht zu bekommen. Im kommenden Jahr dürfen die Menschen wieder Stellung zu den Plänen der Regionalverbände nehmen. "Bei der Beteiligung ist es wichtig, dass konstruktive Argumente ausgetauscht werden", sagt BWE-Geschäftsführer Wolfram Axthelm.

Aktionen, die nur auf die Verhinderung oder Verzögerung von Vorhaben abzielen, sind destruktiv und blockieren den wichtigen Ausbau der Erneuerbaren Energien.
Wolfram Axthelm

Die klare Forderung: Verfahren müssen umfassend digitalisiert werden. "Die Bundesregierung hat mit der Novelle des Bundesimmissionsschutzgesetzes bereits erste Schritte in diese Richtung unternommen", so Axthelm. In Baden-Württemberg soll noch vor der zweiten Beteiligungsrunde das Landesplanungsgesetz geändert werden. Wie auch jetzt sollen sich alle Menschen zu den Plänen äußern können - aber eben nur noch digital.

Damit würden sich beide Seiten, die Regionalverbände und die Bürgerinitiativen, Arbeit sparen: Das Ausdrucken von Einsprüchen fiele weg. Gleichzeitig entstehen keine weiteren Kosten, um Einsprüche wieder zu digitalisieren, die schon digital verfügbar waren. Von der Zeit ganz zu schweigen.