Prozessauftakt gegen "Reichsbürger" "Militärischer Arm" vor Gericht
In Stuttgart-Stammheim beginnt heute der erste Prozess gegen Mitglieder der "Gruppe Reuß". Vor Gericht: Neun mutmaßliche Mitglieder des "militärischen Arms". Es ist der Start in eine wohl historische rechtliche Aufarbeitung.
Es sind die Ergebnisse aus über 400.000 Seiten Ermittlungsakten, verdichtet in einer Anklageschrift mit mehr als 600 Seiten. Die Vorwürfe gegen die neun Angeklagten, gegen die an diesem Montag der Prozess in Stuttgart-Stammheim beginnt: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Hochverrat. Bei einigen der Angeklagten kommt noch illegaler Waffenbesitz hinzu, einem werden dazu noch versuchter Mord und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen.
Es ist der Auftakt in eine Prozessserie mit 27 Beschuldigten, deren Prozesse wegen ihrer beispiellosen Dimension künftig an drei Gerichten parallel stattfinden sollen. In Stuttgart stehen ab heute neun mutmaßliche Mitglieder des "militärischen Arms" der Gruppe vor Gericht.
Mehr als 380 Schusswaffen
Im Mittelpunkt der Vorwürfe stehen mutmaßliche Umsturzpläne eines Netzwerkes rund um Heinrich XIII. Prinz Reuß, die im Dezember 2022 erstmals für Schlagzeilen sorgten. Damals durchsuchten Ermittler bundesweit Häuser und Geschäftsräume. Gegen Reuß, die ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann, einige ehemalige und aktive Soldaten sowie rund zwei Dutzend weitere Menschen wurden Haftbefehle erlassen.
Nach Ansicht der Bundesanwaltschaft soll sich die Gruppe konkret darauf vorbereitet haben, den Deutschen Bundestag in Berlin zu stürmen und verschiedene Vorbereitungen für den Fall einer Machtübernahme getroffen haben.
Insgesamt stießen die Ermittler bis heute wohl auf mehr als 380 Schusswaffen, knapp 350 Hieb- und Stichwaffen. Sie fanden Nachtsichtgeräte und Handfesseln sowie Satellitentelefone und rechnen der Gruppe Geldmittel in Höhe von rund 500.000 Euro zu - so jedenfalls steht es in der Anklageschrift, die NDR und WDR einsehen konnten und über die ab heute in Stuttgart unter massiven Sicherheitsvorkehrungen verhandelt wird.
Logistische und juristische Herausforderung
Bis zu einer möglichen Verurteilung gilt für alle Angeklagten die Unschuldsvermutung. Im Falle einer Verurteilung drohen ihnen lange Freiheitsstrafen. Jedem Beschuldigten muss dabei die Schuld persönlich nachgewiesen werden - eine Herausforderung, die angesichts der Vielzahl an Angeklagten ein einzelnes Gericht überfordern würde. Deshalb wurde das Verfahren auf getrennte Prozesse in Stuttgart, Frankfurt und München aufgespalten.
Eine Strategie mit Risiko: Denn die Anklage steht und fällt mit der Feststellung, dass es sich tatsächlich um eine terroristische Vereinigung handelt. Sollte nur eines der drei Gerichte diese Frage verneinen, könnte dies auch Auswirkungen auf die übrigen Verfahren haben.
In Stammheim hat man immerhin Erfahrungen mit Mammutprozessen: Vor fast 50 Jahren wurde hier gegen Führungsmitglieder der Rote Armee Fraktion (RAF) verhandelt. Inzwischen gibt es hier einen modernen, auf Hochsicherheitsbedingungen ausgerichteten Prozessbau, in dem die Angeklagten über eigene Wegschleusen in den Gerichtssaal geführt werden. Dort sitzen sie hinter Panzerglas und können selbst mit ihren Rechtsanwälten nur über eine Sprechanlage kommunizieren.
Für den "Reichsbürger"-Prozess wurden die neun Beschuldigten aus verschiedenen Gefängnissen in Baden-Württemberg in die Justizvollzugsanstalt Stammheim verlegt. Doch auch dort sollen sie streng voneinander abgeschirmt werden.
Bundesweit Mitglieder rekrutiert
Bei den Stuttgarter Angeklagten handelt es sich vor allem um mutmaßliche Mitglieder des "militärischen Arms" der Gruppe. Ihnen wird vorgeworfen, sich am Aufbau sogenannter "Heimatschutzkompanien" (HSK) beteiligt zu haben. Bundesweit sollen einzelne Mitglieder geplant haben, eigene militärisch organisierte Gruppen aufzubauen, andere sollen rekrutiert und unterstützt haben. Besonders fortgeschritten soll eine der Gruppen im Raum Tübingen gewesen sein - die sogenannte "HSK 221".
Nicht nur stießen Polizisten den Ermittlungsakten zufolge auf umfangreiche Organigramme, auf Teilnehmerlisten und Aufstellungen über Fähigkeiten und Waffenkenntnisse - auch führten ihre Ermittlungen unter anderem direkt zu einem Bundeswehrsoldaten des Kommando Spezialkräfte (KSK) in Calw.
Dort stand mit Stabsfeldwebel Andreas M. ein Soldat im Dienst, der neben seiner Bundeswehrtätigkeit offenbar auch am Aufbau privater Heimatschutzkompanien gearbeitet haben soll. Bei Durchsuchungen fanden Beamte unter anderem eigene fiktive Nummernschilder des sogenannten "Militärischen Stabes". Laut Anklage soll M. auch dabei geholfen haben, für die Heimatschutzkompanien zu rekrutieren.
Gegenüber Ermittlern sollen seine Verteidiger angegeben haben, M. habe sich als Teil einer friedlichen Mission gesehen. Der Aufbau der Heimatschutzkompanien habe keine militärischen Zwecke gehabt, sondern der Vorbeugung im Krisenfall gedient. Auf Anfrage von NDR und WDR wollten sich seine Anwälte nicht äußern.
Besonders im Fokus: Markus L.
Besonders im Fokus dürfte daneben auch der Angeklagte Markus L. stehen. Er war erst später ins Visier der Ermittler geraten. Als ein Sondereinsatzkommando der Polizei ihn im März 2023 in seiner Wohnung aufsuchte, soll er zwei Polizisten angeschossen haben. Aus Fotos in Ermittlungsakten geht hervor, wie Markus L. - verschanzt hinter einem Sessel, überzogen mit einer schussfesten Weste - dort offenbar ein halbautomatisches Schnellfeuergewehr auf einem Zweibein stationiert und damit auf die Beamten geschossen haben soll. Einer der Polizisten, der mit einem Projektil im Arm getroffen wurde, soll bis heute unter den Folgen leiden.
Nachdem Markus L. sich seinerzeit ergeben hatte, fanden Polizisten in seiner Wohnung neben NS-Devotionalien zahlreiche Waffen und größere Mengen Munition, die nach Informationen von NDR und WDR offenbar zum Teil aus Altbeständen der Bundeswehr stammen sollen. Markus L. gilt den Ermittlern seither als ein Beleg für die Gewaltbereitschaft der Gruppe. Seine Anwälte wollten sich auf Anfrage nicht äußern.
Weitere Prozesse stehen an
Über 40 Prozesstage sind in Stammheim anberaumt, doch das Verfahren dürfte sich bis weit ins kommende Jahr ziehen. Allein für die Verlesung der Anklageschrift rechnen Verteidiger mit zwei Prozesstagen. Dann dürfte es zunächst um die grundsätzliche Frage gehen, ob es sich bei der Gruppe tatsächlich um eine terroristische Vereinigung handelt. Erst dann sollen die individuellen Tatbeteiligungen der einzelnen Angeklagten aufgeklärt werden.
Auch die weiteren Prozesse sind inzwischen terminiert: Vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt soll am 21. Mai der Prozess gegen die mutmaßlichen Rädelsführer der Gruppe beginnen - darunter Reuß und die ehemalige Bundestagsabgeordnete Malsack-Winkemann. In München soll der Prozess gegen acht weitere Angeklagte dann am 18. Juni beginnen.