Gedenken im Bundestag "Es begann mit Wegschauen"
Mit bewegenden Reden hat der Bundestag an die Befreiung des KZ Auschwitz vor 79 Jahren erinnert. Die Überlebende Eva Szepesi berichtete vom Grauen der Vergangenheit - und schlug die Brücke in die Gegenwart.
Der Bundestag hat am Vormittag der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Dabei beklagte die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi das Wiedererstarken von Antisemitismus. Sie forderte Widerspruch und ein Eintreten für Demokratie und gegen Rechtsextremismus. "Nie wieder ist jetzt", sagte sie unter anhaltendem Applaus des vollen Plenums.
Der 1949 in Polen geborene Sportjournalist Marcel Reif sprach anschließend als Vertreter der zweiten Schoah-Generation. Sein Vater hatte den Holocaust nur knapp überlebt.
Bas: "Holocaust für Überlebende nie verschwunden"
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas gedachte der sechs Millionen ermordeten Juden in Europa, der Sinti und Roma sowie "der wegen ihrer politischen Überzeugung, ihres christlichen Glaubens oder als Zeugen Jehovas verfolgten Menschen", der queeren Menschen und der Opfer der sogenannten Euthanasie. Der Holocaust sei auch für die Überlebenden nie aus ihrem Leben verschwunden, betonte Bas. "Es erfüllt mich mit Scham, dass den Überlebenden lange niemand zuhören wollte."
Bezug zum Hamas-Terror und den Folgen
Szepesi, die Auschwitz als Kind überlebt hatte, erinnerte an den Terror der Hamas am 7. Oktober in Israel als schlimmsten Angriff auf Juden seit der NS-Zeit. Er habe auch hierzulande den Antisemitismus erneut befeuert.
Sie selbst müsse inzwischen unter Polizeischutz in Schulen sprechen. Die Schoah habe mit Worten begonnen, "mit dem Schweigen und Wegschauen der Gesellschaft", mahnte sie. Es erschrecke sie, dass rechtsextreme Parteien wieder gewählt würden, die die Demokratie bedrohten. "Wer schweigt, macht sich mitschuldig."
Zuvor hatte Szepesi aus eigenem Erleben geschildert, wie mit der Einführung der NS-Rassengesetze Ausgrenzung, Verfolgung und Deportation begannen. Sie schilderte ebenso eindrücklich wie bedrückend den Verlust ihrer Eltern und Verwandten, ihre Deportation in einem Viehwaggon nach Auschwitz sowie die brutalen und demütigenden Misshandlungen als zwölfjähriges Kind im KZ.
50 Jahre Schweigen
Ihr Lebensweg führte sie nach dem Krieg nach Deutschland. Hier habe sie 50 Jahre über ihre Geschichte geschwiegen. "Ich kann nicht hassen, dafür habe ich zu viel Liebe bekommen", betonte sie. Nun sei es ihre Lebensaufgabe, "für alle zu sprechen, die nicht mehr sprechen können", so die 91-Jährige.
Reif mahnte Deutschland, die zweite Chance nach dem Holocaust nicht zu verspielen. Die "großen Demonstrationen der Aufrechten machen mir Hoffnung", betonte er. Seine Familie sei nach dem Krieg über Polen und Israel nach Deutschland, in das "Land der Täter", zurückgezogen. Sein Vater habe lange über den Holocaust geschwiegen. Er selbst habe nicht gefragt - aus Angst, Unfassbares zu hören. Der Vater habe die Kinder so vor den furchtbaren Schatten der Vergangenheit bewahren wollen.
Reif: "Sei ein Mensch"
Irgendwann sei ihm aber klar geworden, dass sein Vater ihm seine Lebenserfahrung doch mitgeteilt habe, nämlich in dem Satz: "Sei ein Mensch." Dieses "Vermächtnis" wolle er auch den Parlamentariern weitergeben.
Studierende der Universität der Künste Berlin umrahmten die Gedenkstunde mit Stücken von Künstlern, die in der NS-Zeit verfolgt oder ermordet worden waren.
Der Bundestag erinnert seit 1996 jährlich an die Befreiung der Überlebenden des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch Soldaten der Roten Armee am 27. Januar 1945.