60 Jahre Auschwitz-Prozess Die deutsche Vergangenheit vor Gericht
Die deutsche Nachkriegsgesellschaft verdrängte die NS-Geschichte statt sich der eigenen Verantwortung zu stellen. Es war deshalb nicht selbstverständlich, dass am 20. Dezember 1963 der Auschwitz-Prozess beginnen konnte.
"Die Leute wurden aus den Wagons herausgetrieben, von der SS. Und wir standen in einer Kette und unter Androhung der Todesstrafe wurde uns verboten, sich mit jemandem von den 'Zugängen' zu unterhalten." So beschreibt Rudolf Vrba die Ankunft im KZ Auschwitz.
Es ist der 117. Verhandlungstag im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess. Mit 18 war Vrba nach Auschwitz verschleppt worden. Nach zwei Jahren im Lager konnte er fliehen. Der Bericht, den er 1944 verfasste, war einer der ersten, der die westlichen Alliierten über die Mordmaschinerie der Vernichtungslager und über die Gaskammern informiert hatte.
Ein Prozess gegen die Schlussstrich-Mentalität
Zum Prozess in Frankfurt war Vrba aus London angereist. Vor dem Frankfurter Schwurgericht schilderte er seine Erlebnisse an der Rampe in Auschwitz, die einzelnen Transporte mit mehreren Tausend Menschen, die Selektionen, das Schicksal der vielen, die sofort ermordet wurden.
"Der Rest der Leute wurde dann auf vorbereitete Lastwagen geladen und auf die andere Seite, das heißt nach Birkenau, direkt in die Gaskammern verschickt." Mit beeindruckend ruhiger Stimme berichtete Vrba von den alltäglichen Abläufen im Vernichtungslager Auschwitz.
Dass es 1963 überhaupt zu diesem Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main gekommen ist, grenzt an ein Wunder im Deutschland der Nachkriegszeit. Denn nach den Kriegsverbrecher-Prozessen von Nürnberg direkt nach dem Krieg wurden nur wenige Mörder zur Verantwortung gezogen. Im Gegenteil: Hochrangige Nazis machten in der Bundesrepublik Karriere. Berüchtigte Beispiele sind Konrad Adenauers Kanzleramtschef Hans Globke oder BND-Chef Reinhard Gehlen.
Auch im Frankfurter Gerichtssaal - zunächst im Rathaus am Römer, dann im Bürgerhaus Gallus - wurden die starken Widerstände gegen die Aufarbeitung spürbar. Besucher konnten beobachten, dass einige Polizisten salutierten, als die angeklagten SS-Täter den Saal betraten.
Fritz Bauer kämpft für die Aufklärung
Hinter dem Auschwitz-Prozess in Frankfurt stand der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Als Jude und Sozialdemokrat musste er selbst aus Nazi-Deutschland fliehen. Nach dem Krieg war er der Motor einer Vergangenheitsaufarbeitung mit den Mitteln des Rechts. Ein Einzelkämpfer in einer Justiz, die an der Bestrafung des NS-Unrechts wenig Interesse zeigte.
Bauer war auch auf den einen oder anderen Zufall angewiesen. Ein Beispiel: Dokumente, die gegen Kriegsende bei einem Brand des SS- und Polizeigerichts in Breslau auf die Straße geweht wurden. Der Holocaust-Überlebende Emil Wulkan hatte die Papiere aufgesammelt. Es handelte sich um detaillierte Erschießungslisten, die die SS in Auschwitz angefertigt hatte - für den Prozess wichtige Beweisstücke.
Ein historischer Mammutprozess
Die "Strafsache gegen Mulka u.a.", wie der Auschwitz-Prozess offiziell hieß, war ein Mammutprozess. Vier Staatsanwälten und drei Nebenklagevertretern saßen 22 Angeklagte mit 19 Strafverteidigern gegenüber.
Der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, war 1947 in Polen zum Tode verurteilt worden. Der Angeklagte Robert Mulka war sein Adjutant gewesen. Nach 183 Verhandlungstagen ergingen 1965 die Urteile des Frankfurter Schwurgerichts. Sechs Mal lebenslange Freiheitsstrafe, ansonsten Haftstrafen von 3 bis 14 Jahren.
Doch nicht nur die Bestrafung der einzelnen Auschwitz-Täter war das Ziel von Fritz Bauer. Er wollte, dass Auschwitz endlich Thema wird in der Gesellschaft der Täter. Dass die Deutschen sich endlich dem stellen, was Mauritius Berner am 78. Verhandlungstag schilderte - das, was ihm der SS-Apotheker Victor Capesius bei der Ankunft in Auschwitz gesagt hatte.
"Dr. Capesius sagte: Weinen Sie nicht, die gehen nur baden. In einer Stunde werden sie sich wiedersehen. Da schrie ich meiner Frau und meinen Kindern noch auf Ungarisch nach. Nie habe ich sie mehr gesehen." Berners Frau und seine drei Töchter waren gleich nach ihrer Ankunft in den Gaskammern von Auschwitz ermordet worden.
Historische Tondokumente
Der Auschwitz-Prozess war auch deshalb ein wichtiger Schritt der Aufklärung der deutschen Verbrechen, weil die Aussagen von 318 der insgesamt 360 Zeugen auf Tonband aufgenommen wurden. Ursprünglich waren sie nur für das Gericht und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.
Doch der Generalsekretär des Internationalen Auschwitz-Komitees in Wien, Hermann Langbein, hakte beim damaligen hessischen Justizminister nach. Und der sorgte dafür, dass die Aufnahmen erhalten blieben. Heute sind sie Teil des Weltdokumentenerbes der UNESCO und können über die Internetseite des Fritz-Bauer-Instituts angehört werden.
Rechtsprechung des BGH schützte Tausende SS-Täter
Juristisch hatte der Auschwitz-Prozess keine nachhaltigen Folgen. Zwar wurden 16 Angeklagte verurteilt und es gab auch einige Folge-Prozesse. Aber die große Mehrheit der SS-Täter von Auschwitz - mehr als 8.000 Mann zählte die Wachmannschaft - mussten sich für ihre Verbrechen nie vor Gericht verantworten.
Das lag auch an der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes. Der verlangte damals für eine Verurteilung, dass jedem Einzelnen eine konkrete Tatbeteiligung nachgewiesen wurde. Erst 2016 änderte der BGH diese Linie und erkannte: Die KZs waren Teil einer "industriellen Tötungsmaschine". Schon untergeordnete Tätigkeiten wie als SS-Buchhalter oder SS-Sekretärin konnten Beihilfe zum Mord im Gesamtsystem des "organisierten Tötungsapparates" gewesen sein, so der BGH.
Seit diesem Urteil gab es in den vergangenen Jahren einige Prozesse gegen ehemalige KZ-Täterinnen und -Täter wegen Beihilfe zum Massenmord. Aufgrund des hohen Alters der meisten von ihnen wird die juristische Aufarbeitung des Holocaust aber auf absehbare Zeit ganz enden. Die allermeisten SS-Täterinnen und -Täter von Auschwitz und anderer KZs wurden strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen.
Die Stimmen der Zeugen sind weiterhin hörbar
Dass die juristische und gesellschaftliche Aufarbeitung der deutschen NS-Verbrechen ein langer und steiniger Weg werden würde, hatte der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer bereits 1964 geahnt. Ihn hatte das Verhalten der Angeklagten im ersten Auschwitz-Prozess ernüchtert:
Als wir den Prozess konzipiert haben, gehörte dazu die Vorstellung, dass früher oder später einer von den Angeklagten auftreten würde und sagen würde: Was damals geschehen ist, war furchtbar, es tut mir leid, es wird nicht mehr geschehen - ein menschliches Wort. Ich glaube, Deutschland würde aufatmen und die gesamte Welt und die Hinterbliebenen derer, die in Auschwitz gefallen sind, wenn endlich einmal ein menschliches Wort fiele. Es ist nicht gefallen und es wird auch nicht fallen.
Bauer sollte Recht behalten. Bis zum Ende des Prozesses schützten sich die SS-Täter gegenseitig mit ihren Aussagen. Aufklärung boten nur die Aussagen der überlebenden Zeugen. Umso wichtiger für das Geschichtsbewusstsein in Deutschland, dass die Stimmen der Zeugen des Frankfurter Auschwitz-Prozesses heute noch zu hören sind.