Holocaust-Gedenken im Bundestag "Es ist gefährlich zu glauben, wir hätten ausgelernt"
Mit einer Gedenkstunde hat der Bundestag erstmals besonders an die Verfolgung von queeren Menschen in der NS-Zeit erinnert. Viele starben infolge von Zwangsarbeit und unmenschlichen Bedingungen in den Konzentrationslagern.
Anlässlich des internationalen Holocaust-Gedenktags hat der Bundestag am Vormittag der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Erstmals wurden Menschen in den Mittelpunkt gestellt, die wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität von den Nationalsozialisten verfolgt wurden.
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas sagte, es dürfe kein Ende des Erinnerns an alle Opfer geben, die von den Nationalsozialisten verfolgt, bedroht, entrechtet und ermordet wurden. Wenn die Zeitzeugen nun nach und nach sterben, müssten andere ihre Geschichte erzählen. "Die Opfer des Holocaust bleiben unvergessen."
Am 27. Januar 1945 hatten Soldaten der Roten Armee die Überlebenden des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz im besetzten Polen befreit. Die Nazis hatten dort mehr als eine Million Menschen ermordet. Seit 1996 wird das Datum in Deutschland als Holocaust-Gedenktag begangen.
Bis zu 50.000 Männer während der NS-Zeit inhaftiert
Bas sagte, es sei ihr zudem sehr wichtig, "dass wir heute der Menschen gedenken, die wegen ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität verfolgt wurden". Denn das Ende des Nationalsozialismus sei noch kein Ende der staatlichen Verfolgung für diese Opfergruppe gewesen. Vor allem schwule Männer waren auch nach dem Ende der NS-Diktatur massiv bedroht durch den Paragrafen 175 Strafgesetzbuch.
Der sogenannte "Schwulen-Paragraf" wurde im Deutschen Kaiserreich eingeführt und stellte sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe. Die Verschärfung des Gesetzes erfolgte 1935 unter dem Nazi-Regime. Nach Angaben der Antidiskriminierungsstelle des Bundes wurden während der NS-Diktatur aufgrund des Paragrafen 175 bis zu 50.000 Männer inhaftiert, etwa 15.000 kamen in Konzentrationslager. Viele von ihnen starben infolge von Zwangsarbeit und den unmenschlichen Bedingungen in den Lagern.
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der Paragraf Bestandteil des deutschen Strafgesetzbuchs. Bis 1969 wurden laut Schätzung eines Gutachtens im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle rund 50.000 Männer auf dieser Grundlage verurteilt. Aus heutiger Sicht klinge es "unglaublich", dass der Paragraf 175 im wiedervereinigten Deutschland erst 1994 endgültig abgeschafft wurde, sagte Bas.
Bas: "Queer-feindliche Straftaten nehmen zu"
Auch mit Blick auf die heutige Zeit mahnte Bas, bei Diskriminierungen queerer Menschen genauer hinzusehen. "Queer-feindliche Straftaten nehmen zu", sagte die SPD-Politikerin. "Schwule, Lesben und Trans-Personen werden beleidigt, bedrängt und angegriffen."
Mit Blick auf den Holocaust warnte Bas, es sei gefährlich zu glauben, die Deutschen hätten ausgelernt. "Wir müssen uns weiterhin mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen." Eine freiheitliche, offene Gesellschaft sei keine Selbstverständlichkeit.
"Mich beunruhigen auch Versuche, die Einzigartigkeit des Holocaust zu relativieren", sagte die Bundestagspräsidentin. "Antisemitismus und Antiziganismus, Rassismus nehmen wieder zu. "Fünf antisemitische Straftaten werden im Schnitt in Deutschland jeden Tag registriert. Gedenkstätten werden geschändet. Jüdische Einrichtungen und Synagogen werden angegriffen, Menschen werden angefeindet, bedroht und attackiert, weil sie Jüdinnen und Juden sind. Das ist eine Schande für unser Land."
Antisemitismus nehme immer öfter auch versteckte Formen an, etwa bei Verschwörungstheorien oder der Dämonisierung des Staates Israel, so Bas. "Wir müssen wachsam sein und genau hinschauen." Auch bei der Diskriminierung queerer Menschen, fügte Bas hinzu. "'Nie wieder', das ist ein Auftrag für uns alle. Wo Hass um sich greift, ist niemand sicher."
Kats: "Das Versprechen 'Nie wieder' meinte längst nicht alle Opfer"
Bei der Gedenkstunde sprach auch die Holocaust-Überlebende Rozette Kats. Sie wurde 1942 geboren und überlebte die Shoa bei einem Ehepaar in Amsterdam. Ihre Eltern und ihr kleiner Bruder wurden in Auschwitz ermordet. In ihrer Rede mahnte sie, alle Opfer der Nazis gleichermaßen in die Erinnerung einzuschließen. "Jeder Mensch, der damals verfolgt wurde, verdient achtungsvolle Erinnerung", sagte die 80-Jährige.
Kats hob Gemeinsamkeiten zwischen ihrem eigenen Schicksal und den verfolgten queeren Menschen hervor. Was sie als Kind lernen musste - sich zu verstecken und ihre Identität zu verleugnen - , das mussten auch viele Angehörige sexueller und geschlechtlicher Minderheiten. Auch nach 1945. So etwas "macht Menschen krank."
"Das Versprechen 'Nie wieder' meinte längst nicht alle Opfer der Nationalsozialisten", sagte Kats. "Roma und Sinti mussten noch Jahrzehnte um Anerkennung kämpfen. Und wiederum erst sehr spät wurde verstanden, dass der Haftgrund 'asozial' eine Nazi-Definition war, die auch zur Verurteilung lesbischer Frauen missbraucht wurde." Damit habe die Ideologie der Nazis weiter wirken können und tue es immer noch, "wenn wir Gewalttaten gegen queere Menschen noch immer erleben müssen".
"Gedenkstunde wichtig für die ganze Queer-Community"
Ein Überlebender der Verfolgung sexueller Minderheiten in der NS-Zeit kam nicht zu Wort. Die Betroffenen sind inzwischen verstorben. Stellvertretend für sie stellten die Schauspielerin Maren Kroymann und ihr Kollege Jannik Schümann Lebensgeschichten homosexueller Männer und Frauen vor.
Auch der Queer-Aktivist Klaus Schirdewahn aus Mannheim hielt eine Rede. Er wurde in der Bundesrepublik noch 1964 nach dem Paragrafen 175 verhaftet. Heute setze er sich mit seiner ganzen Kraft dafür ein, "dass unsere Geschichte nicht vergessen wird. Gerade heute, wo die Queer-Community erneut großen Anfeindungen weltweit ausgesetzt ist." Es sei ihm wichtig, dass die Jugend nicht vergesse, wie viel Mühe und Kraft es gekostet habe, "dass wir so leben können, wie wir leben dürfen", so Schirdewahn.
Zu lange habe es gedauert, bis auch die Würde der Homosexuellen in Deutschland gezählt habe. "Deswegen ist die heutige Gedenkstunde nicht nur wichtig für mich, sondern für die ganze Community." Sie sei ein Zeichen der Anerkennung und ein Zeichen in die Gesellschaft hinein. Den Betroffenen gebe sie etwas von ihrer Würde zurück.