Schild an der Außenfassade des 1. Polizeireviers Frankfurt
Hintergrund

Rechtsextremistische Drohungen Was über die "NSU 2.0"-Briefe bekannt ist

Stand: 20.07.2020 14:43 Uhr

Unter den rechtsextremistischen Drohmails gegen Personen des öffentlichen Lebens steht "NSU 2.0". Der Name tauchte bereits 2018 in Morddrohungen gegen eine Anwältin auf. Spuren führen zur hessischen Polizei.

Bereits 2018 erhielt die Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz Morddrohungen, die mit "NSU 2.0" unterzeichnet waren. In ihnen kündigten die Verfasser unter anderem an, deren zweijährige Tochter "abzuschlachten". Die Anwältin hatte zuvor im Prozess um die NSU-Morde die Familien von Opfern als Nebenklägerin vertreten.

Auch fast zwei Jahre später ist noch nicht bekannt, wer hinter den Schreiben steckt. Aber es gibt eine Spur, die zur hessischen Polizei führt. Die Mails enthielten nicht öffentliche Daten, abgerufen wurden sie im 1. Polizeirevier in Frankfurt.

Seda Basay-Yildiz

Die Anwältin Seda Basay-Yildiz und ihre Familie wurden mehrfach bedroht.

Auch bei den neuen Drohbriefen gegen die Linken-Politikerin Janine Wissler und die Kabarettistin Idil Baydar im Juli 2020 wurden persönliche Daten der Frauen von Polizeicomputern abgefragt, bevor die Drohschreiben verschickt wurden. Wisslers Daten wurden laut "Frankfurter Rundschau" im 3. Polizeirevier Wiesbaden aufgerufen.

Das vorherige Abrufen persönlicher Daten der Betroffenen von Polizeirechnern nährte bereits 2018 den Verdacht eines rechten Netzwerks unter hessischen Polizisten. Der hessische Innenminister Peter Beuth räumte erst am 16. Juli 2020 nach den neuen Fällen erstmals ein, dass es ein solches Netzwerk geben könnte.

Weitere Drohungen 2019

Drei Tage nach dem Mord an dem ehemaligen Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni 2019 erhielt Basay-Yildiz erneut Drohungen: Auch dieses Fax war wieder mit "NSU 2.0" unterzeichnet. Der oder die Verfasser drohten sinngemäß, nach Lübcke auch sie zu töten.

Elf Tage später wurde der Rechtsextremist Stephan Ernst als Tatverdächtiger festgenommen. Aber aus dem Drohschreiben wird nicht klar, ob der Verfasser tatsächlich über Täterwissen im Fall des ermordeten Lübcke verfügte. Möglich wäre auch, dass ein rechter Trittbrettfahrer den Mord an Lübcke für seine Zwecke nutzte, um der Anwältin Angst zu machen.

Im Juli 2019 rief eine Gruppierung im Darknet zum Mord an Seda Basay-Yildiz auf. Unterschrieben wurde die Mail mit "Sieg Heil und Heil Hitler! Mit freundlichen Grüßen Die Musiker des Staatsstreichorchesters".

2020: Drohbotschaften gegen prominente Frauen

Kurz hintereinander gingen dann im Sommer 2020 mit "NSU 2.0" unterzeichnete Todesdrohungen an mehrere Politikerinnen. Die Kabarettistin Baydar war über Monate hinweg - seit März 2019 massiv Schmähungen und Drohungen - auch per SMS - von Rechtsextremisten ausgesetzt. Sie waren mit "SS-Obersturmbannführer" unterschrieben. Dass ihre persönlichen Daten von einem Rechner der hessischen Polizei abgerufen wurden, teilte die Staatsanwaltschaft Frankfurt im Juli 2020 mit.

Alle Adressatinnen sind Frauen. Die Todesdrohungen gingen an die hessische Linken-Fraktionschefin Wissler, die Fraktionsvorsitzende der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus, Anne Helm, die stellvertretende Parteivorsitzende der Linken in Thüringen, Martina Renner, sowie die Linken-Bundestagsabgeordnete Helin Evrin Sommer. Wissler erhielt die erste derartige Mail bereits im Februar 2020.

Die Linken-Politikerinnen Wissler, Renner und Helm erhielten im Juli 2020 nach Informationen des Hessischen Rundfunks erneut "NSU 2.0"-Drohmails, außerdem waren auch zwei Journalistinnen unter den Adressatinnen.

In der Mail wünscht der Verfasser den vier Frauen den Tod. Der Duktus ist ähnlich wie in den bisherigen "NSU 2.0"-Schreiben, was darauf schließen lassen könnte, dass es sich um denselben Verfasser handeln könnte. Das sei jedoch noch lange nicht geklärt, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main. Die Schreiben anhand eines Sprachduktus einem Verfasser allein zuzuordnen, sei sehr schwierig.

Der hessische Innenminister Peter Beuth gibt den Rücktritt von Landespolizeipräsident Münch bekannt.

Der hessische Innenminister Peter Beuth gibt den Rücktritt von Landespolizeipräsident Münch bekannt.

Suche nach anonymem Täter oder Tätern

Es sei eine sehr schwierige Ermittlungsarbeit, "und wir kommen da wirklich sehr schlecht voran", sagte Andreas Grün, Landeschef der Gewerkschaft der Polizei in Hessen, dem Hessischen Rundfunk. Es gebe "überhaupt keine Beweise oder Anhaltspunkte" für ein rechtsextremes Netzwerk innerhalb der Polizei. "Wir haben Verdachtsfälle", sagte Grün, aber zwischen diesen Fällen gebe es "keine interaktive Kommunikation oder Vernetzung". Die Fälle lasteten schwer auf der hessischen Polizei.

Der hessische Innenminister Beuth hatte zuvor den Direktor der Kriminaldirektion im Polizeipräsidium Frankfurt, Hanspeter Mener, als Sonderermittler eingesetzt. "Ziel ist es, den oder die Täter aus der Anonymität zu reißen," sagte Beuth.

Anwältin kritisiert Umgang als "puren Aktionismus"

Am 14. Juli 2020 hatte Beuth Landespolizeipräsident Udo Münch in den einstweiligen Ruhestand geschickt. Münch übernahm damit die Verantwortung für die späte Information der Ministeriumsspitze über die Abfragen der Daten der Linken-Politikerin Wissler. Das LKA hatte dem Landespolizeipräsidium in einer Videokonferenz schon am 5. März von der unberechtigten Abfrage der Daten Wisslers in der Wiesbadener Polizeistation berichtet.

Die Frankfurter Rechtsanwältin Basay-Yildiz, die seit 2018 in NSU 2.0-Schreiben bedroht wird, kritisierte Beuths Maßnahmen scharf als puren Aktionismus. Dem Hessischen Rundfunk sagte sie weiter, sie sehe die Einsetzung des Sonderermittlers mit gemischten Gefühlen: Zwar hoffe sie, dass er die Täter findet. Doch sie habe den Eindruck, dass es den Sonderermittler nur gebe, weil jetzt mit Wissler eine Politikerin bedroht werde. Damit fühle man sich "wie ein Mensch zweiter Klasse".

Bisher keine Anklage

Die Verfahren gegen sechs verdächtige Polizisten in diesem Fall dauern mehr als eineinhalb Jahre später immer noch an. Bisher wurde keine Anklage erhoben. Die Ermittler entdeckten nicht nur, dass Basay-Yildiz' Daten im Sommer 2018 grundlos an einem Polizeicomputer abgerufen wurden - einschließlich des Namens ihrer Tochter und der Privatadresse, sondern zudem eine WhatsApp-Gruppe, in der Polizisten aus dem 1. Revier rechtsextremistische Inhalte austauschten.

Insgesamt wird gegen sechs Polizisten ermittelt, einer wurde im Juni 2019 vorläufig festgenommen, weil er unter dem Verdacht steht, an der Versendung des Drohschreibens beteiligt gewesen zu sein. Fünf der Beamten sind suspendiert, einer wurde auf eigenes Verlangen entlassen.

Forderungen, dass der Generalbundesanwalt die Ermittlungen übernehmen sollte, wurden nach den neuen Drohungen laut. Grundsätzlich ist die Strafverfolgung jedoch Sache der Länder. Die Staatsanwaltschaft des Bundes darf nur in ganz bestimmten, gesetzlich geregelten Fällen Ermittlungen führen. Dazu zählen die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Spionage oder Landesverrat.

Die Unterschrift "NSU 2.0" und der Anti-Feminismus

Die Bezeichnung "NSU 2.0" bezieht sich auf die Terrorgruppe NSU ("Nationalsozialistischer Untergrund"), die zwischen 2000 und 2007 in Deutschland zehn Menschen ermordete.

Da sich alle "NSU 2.0"-Drohungen gegen Frauen richten, liegt die Frage nahe, weshalb gerade Frauen, die im öffentlichen Leben stehen, für Rechtsextremisten ein Feinbild darstellen. "Der Antifeminismus, der oft einhergeht mit einem Frauenhass, ist Teil des rechtsextremen Weltbildes, auch wenn wir das sehr selten im öffentlichen Fokus haben", erklärt die Gießener Politikwissenschaftlerin Alexandra Kurth. "Aspekte wie Rassismus oder Nationalismus stehen viel stärker im Vordergrund." Aber das heiße nicht, dass der Antifeminismus für die rechtsextreme Ideologie keine Rolle spiele.

"Alles, was in Richtung einer selbstbewussten Weiblichkeit, einer selbstbewussten Positionierung von Frauen geht, ist aus Sicht des Rechtsextremismus und -populismus ein Affront auf ihre Welt- und Gesellschaftsordnung", meint auch der Politologe Wolfgang Schroeder aus Kassel. "Selbstbewusste Frauen des öffentlichen Lebens, links- oder liberal-demokratisch orientiert, gehören aus dem Weltbild dieser Leute heraus sanktioniert", sagte er der Nachrichtenagentur dpa.

Die Berliner Linkspartei-Abgeordnete Helm, die selbst "NSU 2.0"-Drohmails erhielt, beobachtet seit Jahren rechte Radikalisierung im Netz. Sie hat festgestellt, dass der Hass auf Frauen ein verbindendes Element in der Gedankenwelt von rechtsextremistischen Attentätern ist. Auch für den Attentäter von Christchurch, der im März in Neuseeland 51 Menschen ermordet hatte, und den Täter, der in Halle ein Attentat auf die Synagoge verübte und zwei Menschen tötete, war Frauenfeindlichkeit neben Antisemitismus und Rassismus ein entscheidendes Motiv, so Helm.

"Nur Bruchteil der Fälle" öffentlich

Weshalb sich der Hass des oder der Verfasser hauptsächlich gegen Frauen richtet, erklärte die Berliner Professorin und Rechtsextremismus-Expertin Esther Lehnert gegenüber dem Hessischen Rundfunk. "Einerseits haben wir eine ganz starke antifeministische Ebene, die in den letzten Jahren in rechtsextremer Politik eine zentrale Rolle gespielt hat. Andererseits haben wir ein Geschlechterrollenmodell, das nach wie vor sehr sexistisch aufgestellt ist."

Das heißt, die Frauen, die diesem nicht entsprechen - die besonders sind, die in der Öffentlichkeit stehen, die aktiv gegen Rechtsextremismus arbeiten, die sich Raum nehmen in der Öffentlichkeit, gelten schon seit Jahren als Feindbilder im Rechtsextremismus.

Es gibt keine genauen Zahlen dazu, wie oft Frauen Opfer von rechtsextremer Bedrohung werden. "Fest steht allerdings, dass das Dunkelfeld enorm ist. Nur ein Bruchteil der Fälle erreicht das Licht der Öffentlichkeit", sagt Franziska Schindler, Sprecherin der Amadeu Antonio Stiftung, die sich unter anderem für Opfer rechtsextremer Gewalt einsetzt. "Dabei geht es nicht nur um Hassmails und -Faxe, wie durch den 'NSU 2.0' versendet. Hinzu kommen unzählige Mord- und Gewaltandrohungen, die Frauen in den sozialen Netzwerken entgegenschlagen, wenn sie mit ihren Positionierungen nicht in das Weltbild der Rechtsextremen passen."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk Nova am 16. Juli 2020 um 18:03 Uhr.