Annalena Baerbock
analyse

Nahost-Reise Baerbocks Politik der kleinen Schritte

Stand: 12.11.2023 06:55 Uhr

Ob Waffenstillstand, humanitäre Hilfe oder Selbstverteidigungsrecht - Außenministerin Baerbock musste auf ihrer Nahost-Reise viele Dinge unter einen Hut bringen. Und immer befand sie sich dabei in einem Dilemma.

Von Georg Schwarte, ARD-Hauptstadtstudio

Es war bereits die dritte Nahost-Reise für Annalena Baerbock, seit am 7. Oktober Israel mit dem Angriff der Hamas seine ganz eigene Zeitenwende erlebte. Keine zwei Tage war die Bundesaußenministerin unterwegs: Dreieinhalb Länder, sieben hochrangige Gesprächspartner. Sie befand sich eigentlich im Dauerkrisengespräch. Und dabei dominierte ein Wort: Dilemma.

Baerbocks Kritiker und Gegner würden es ihre Schwäche nennen, Zuhörer nennen es wohl menschlich: Als sie von den Bildern erzählt, die die Israelis ihr beim ersten Besuch damals Mitte Oktober vom Massaker der Hamas zeigten - ein mehr als 40-minütiges Video des Grauens - ist ihr anzumerken, dass sie damals begriffen hat, was Israel passiert war. "Diese Bilder hallen ewig nach", wird sie am Ende ihrer dritten Nahostreise in Tel Aviv sagen. Ewig. Es klingt wie ein weiteres Bekenntnis zur Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson.

Kein Schwarz oder Weiß im Nahost-Konflikt

Aber, und da kommt schon das Dilemma ins Spiel, es gibt andere, neue Bilder. Da sind die verstörenden Videos aus Gaza. Und auch die haben etwas mit der deutschen Außenministerin gemacht: "Wenn man sieht, wie kleine Kinder apathisch und blutüberströmt in den Trümmern ihres Hauses sitzen, nicht wissen, wo ihre Eltern sind, betrifft einen das nicht nur als Politikerin, sondern auch als Mutter."

Das ist auch das Dilemma der Annalena Baerbock. Nichts in diesem Konflikt ist schwarz oder weiß. Hier das Völkerrecht, das selbst im Krieg Mindeststandards einfordert, da das Selbstverteidigungsrecht Israels, das sich und seine Bürgerinnen und Bürger schützen will. "In diesem Dilemma befinden wir uns", sagt Baerbock nach fast zwei Tagen ununterbrochener Krisendiplomatie. Es ist nicht das einzige Dilemma, mit dem sie es zu tun hat.

Forderungen nach Waffenstillstand

Zum Auftakt ihrer Nahostdiplomatie war sie in Abu Dhabi, in den Vereinigten Arabischen Emiraten gelandet. Da erklärte sie nach einem längeren Abendessen mit dem emiratischen Außenminister, warum ein allgemeiner Waffenstillstand im Gazakrieg die denkbar schlechteste Idee ist. Sie verstehe den Impuls, sagte Baerbock, der aber sei falsch.

Wer Waffenstillstand rufe, müsse sagen, was mit den Geiseln werde. Wer Waffenstillstand fordere, müsse erklären, was das für Israels Sicherheitsbedürfnis bedeute.

Fast zeitgleich aber forderte Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron genau das: einen allgemeinen Waffenstillstand. Mehr noch: Die Bombardierung von Zivilisten nannte Macron "nicht legitim". Da traten, rund 6000 Kilometer von zu Hause entfernt, die Risse innerhalb der EU zutage, die Baerbock neuerdings unter der Überschrift Dilemma verbucht.

Baerbock will "kühlen Kopf" bewahren

Dass ausgerechnet wieder Frankreich ausschert, dass Macron, der die französische Innenpolitik und seine muslimische Bevölkerung im Blick hat, hier sehr allein unterwegs ist- darüber verliert Baerbock öffentlich kein böses Wort. Es seien sicherlich die schwersten Wochen in der Außenpolitik, beschwichtigt sie. Weil es einem schier das Herz zerreiße, wird sie dazu später sagen. Auch sie möchte so gern dem Macron-Impuls folgen und rufen: Hört doch auf zu kämpfen!

Aber da schimmert dann die andere deutsche Außenministerin durch, die nicht nur Mutter, nicht nur Israelfreundin, sondern auch Realpolitikerin ist. Da ist dann die Rede vom "kühlen Kopf". Auch in der Stunde der schlimmsten Krise müsse man über den Tag hinausdenken, heißt das bei ihr.

Baerbock mag das Bild vom mittelfristigen Horizont, der über die kurzfristige Sprachlosigkeit hinweghelfe. Israel verteidige sich selbst und übe keine Rache, sagt sie - und klingt ein wenig, als wollte sie auch Israel freundlich daran erinnern, dass es so sein sollte.

Am mittelfristigen Horizont sieht Baerbock beispielsweise arabische Golfstaaten, die Verantwortung übernehmen müssten. Die Palästinenser mit Geld und humanitärer Hilfe unterstützen. Die Zwei-Staaten-Lösung vorantreiben, statt auf den Zuschauerrängen Platz zu nehmen und auf den Westen zu warten. Ihren verbalen Schulterschluss tauft sie eine "Botschaft der Moderaten an die extremistischen Akteure in der Region: Gießt kein Öl ins Feuer."

Keine Illusion über Deutschlands Rolle

Dabei macht Baerbock sich übrigens keine Illusionen über die eigene und Deutschlands Rolle in der Gazakrise. Während die arabische Liga an diesem Wochenende in Riad nach einer großen Friedenskonferenz ruft, wäre Baerbock ja schon froh, gäbe es mehr humanitäre Korridore nach Gaza, um Lebensmittel, Wasser, Benzin, Verbandszeug vor allem nach Nord-Gaza zu bringen.

Es sind die kleinen Schritte, die eine deutsche Außenministerin aufzeigt. Die humanitäre Lage in Gaza nennt sie jedenfalls katastrophal. Und sie sagt das am Samstag nicht nur in Ramallah, wo sie zum ersten Mal seit dem Terrorangriff der Hamas persönlich mit dem Ministerpräsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde spricht.

Sie sagt es nach ihrer Ankunft in Tel Aviv auch vor israelischen Medienvertretern. Ihr Appell: Stärkt die Autonomiebehörde. Helft den Palästinensern, sich selbst zu helfen. Von Israel fordert sie in diesem Zusammenhang unverblümt, alle blockierten Gelder für die Autonomiebehörde endlich freizugeben.

Angst vor Flächenbrand

Die Israelis haben Baerbocks Besuch im Westjordanland wohl auch deshalb eher erduldet als ermöglicht. Der deutschen Ministerin aber war er wichtig. "Die Zukunft der Palästinenser muss besser sein als ihre Gegenwart und Vergangenheit", sagt sie und benennt offen, dass verbotener Siedlungsbau und zuletzt Gewalt radikaler, jüdischer Siedler gegen Palästinenser im Westjordanland brandgefährlich seien.

Wenn der Funke der Gewalt von Gaza aufs Westjordanland überspringe, sei der Flächenbrand da. Straf- und Gewalttaten jüdischer Siedler müssten daher strafrechtlich verfolgt werden. Baerbock sieht hier Israel in der Pflicht und Verantwortung.

Alle Menschen hätten ein Recht, in Frieden und Würde zu leben. Und jedes Leben sei gleich viel wert, sagt Baerbock, als sie am Abend in Tel Aviv müde zum nächsten Krisengespräch mit dem israelischen Oppositionspolitiker Jair Lapid geht. Dass draußen in der Stadt zeitgleich zahlreiche israelische Jüdinnen und Juden gegen Benjamin Netanyahu und für eine Feuerpause in Gaza auf die Straße gehen, bekommt die deutsche Außenministerin auf Nahostmission nicht mit.

Georg Schwarte, ARD Berlin, zzt. Abu Dhabi, tagesschau, 11.11.2023 06:02 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR aktuell am 12. November 2023 um 07:05 Uhr.