Ein Angehöriger zeigt auf einem Plakat auf das Foto seiner Tochter, die von der Hamas entführt wurde.

Krieg in Nahost Offenbar Fortschritte bei Verhandlungen über Geiseln

Stand: 10.11.2023 21:54 Uhr

Seit Wochen hoffen Angehörige der von der Hamas verschleppten Geiseln auf deren Freilassung. Nun könnte es Fortschritte bei den Verhandlungen geben. In Gaza-Stadt führte der Beschuss eines Krankenhauses zu einer weiteren Fluchtwelle.

Israel und die radikal-islamistische Hamas machen offenbar Fortschritte bei den Verhandlungen über eine Freilassung von im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln. Im israelischen Fernsehen wird ein hochrangiger Beamter zitiert, es gehe um eine Vereinbarung für eine große Zahl von Entführten. Einige Berichte sprechen von mindestens 100 Geiseln, die freigelassen werden sollen.

Der Sprecher der israelischen Armee (IDF), Daniel Hagari, nahm am Abend dazu Stellung, bestätigte die Berichte aber weder, noch dementierte er sie. Man arbeite kontinuierlich an der Heimkehr der Geiseln, so Hagari in seiner abendlichen Pressekonferenz. "Diese Prozesse sind komplex, sie brauchen Zeit." Man werde aber keine Gelegenheit verpassen, damit die Geiseln zurückkehren können. Sollte es weitere Entwicklungen geben, werde die israelische Armee die Familien und die Öffentlichkeit davon in Kenntnis setzen.

Christian Limpert, ARD Tel Aviv, mit Informationen über einen möglichen Deal zur Geisel-Freilassung

tagesthemen, 10.11.2023 21:45 Uhr

Zuletzt waren am 20. und 22. Oktober vier Geiseln freigekommen. Die Hamas soll seit ihrem Angriff auf Israel am 7. Oktober etwa 240 Menschen verschleppt haben.

Krankenhaus in Gaza-Stadt beschossen

Die israelische Armee rückt unterdessen weiter im Gazastreifen vor. In Gaza-Stadt hatte die IDF bereits am Donnerstagabend heftige Kämpfe nahe des al-Shifa-Krankenhauses gemeldet und mitgeteilt, "mehr als 50 Terroristen" getötet und von den Hamas genutzte Tunnel zerstört zu haben. Laut der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde im Gazastreifen belagerten israelische Panzer auch vier Krankenhäuser im Westen von Gaza. Augenzeugen berichteten von Panzern rund um das Kinderkrankenhaus al-Rantisi.

Die Hamas und der Leiter des al-Shifa-Krankenhauses machten Israel für die Angriffe verantwortlich. Israelische Panzer hätten das Gelände des Krankenhauses beschossen und die Entbindungsstation getroffen, sagte Klinikdirektor Mohammed Abu Salmija. Die Hamas sprach von 13 Toten und "Dutzenden Verletzten" durch den Beschuss. 

Konfliktparteien als Quelle

Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch Konfliktparteien können in der aktuellen Lage zum Teil nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.

Nach Darstellung der israelischen Streitkräfte ist die Explosion auf eine Rakete zurückzuführen, die Extremistengruppen von innerhalb des Palästinensergebietes abgefeuert hätten. "Eine Überprüfung der operativen Systeme der IDF deutet darauf hin, dass ein fehlgeleitetes Projektil, das von Terroristen-Organisationen im Gazastreifen abgefeuert wurde, das al-Shifa-Krankenhaus getroffen hat", heißt es in einer Erklärung. Das Ziel der Rakete seien israelische Soldaten auf einem Einsatz in der Umgebung gewesen.

Israel vermutet unter dem al-Shifa-Krankenhaus ein Kommandozentrum der Hamas. Ein führender Vertreter der Terrorgruppe Islamischer Dschihad bestritt das. Die israelischen Angaben seien falsch, erklärte auch Mohammed al-Hindi, der stellvertretende Generalsekretär der militanten Palästinenserorganisation.

Viele flüchten nach Explosionen in der Nacht

Nach den nächtlichen Explosionen seien Tausende Palästinenser aus dem al-Shifa-Krankenhaus geflohen. Es seien nur einige hundert schwer verletzte Patienten und Ärzte zurückgeblieben, berichteten mehrere Geflüchtete. Ein Journalist, der ebenfalls im al-Shifa-Krankenhaus war, und im Süden des Gazastreifens ankam, sagte der Nachrichtenagentur AP, dass kaum noch jemand in der Klinik sei. Nur diejenigen, die nicht laufen hätten können oder nicht gewusst hätten, wohin sie sollen, seien geblieben.

Nach israelischen Angaben haben in den vergangenen zwei Tagen mehr als 100.000 Bewohner den Norden des Gazastreifens in Richtung Süden verlassen. Israel hatte die Bevölkerung zur Räumung des Nordens aufgefordert. Israels Militärsprecher Jonathan Conricus sagte, man gehe davon aus, dass mehr als 850.000 der im Norden des Gazastreifens lebenden 1,1 Millionen Menschen die Gegend verlassen hätten.

Karte Gazastreifen mit den von der israelischen Armee kontrollierten Gebieten

Graue Flächen: Bebaute Flächen im Gazastreifen

Scharfe Kritik an Beschuss von Krankenhäusern

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) zeigte sich alarmiert über den Zustand des Gesundheitssystems in dem Palästinensergebiet. "Überlastet, knappe Vorräte und zunehmend unsicher: Das Gesundheitssystem in Gaza hat einen Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt und das Leben Tausender Verletzter, Kranker und Vertriebener gefährdet ist", warnte die Organisation. Die Zerstörung von Krankenhäusern sei "unerträglich und muss aufhören", erklärte das IKRK. Es betonte, gemäß dem Völkerrecht seien Krankenhäuser besonders geschützte Einrichtungen. 

Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnte, dass die Krankenhäuser, die noch in Betrieb seien, nur noch im Notmodus arbeiten könnten. Für die Versorgung von Patientinnen und Patienten fehle es an medizinischer Ausrüstung und Strom. Inzwischen werden laut WHO im gesamten Gazastreifen nur noch 16 von insgesamt 36 Kliniken überhaupt betrieben.

Der Leiter des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA), Philippe Lazzarini, forderte ein Ende der Kämpfe. "Ganze Stadtteile dem Erdboden gleichzumachen, ist keine Antwort auf die ungeheuerlichen Verbrechen der Hamas", erklärte er in Richtung Israel. "Das UNRWA trauert, die Palästinenser trauern, die Israelis trauern", schrieb Lazzarini weiter. Um die "Tragödie" zu beenden, sei eine "humanitäre Waffenruhe" erforderlich.

UN befürchten Verstoß gegen Völkerrecht

Der Hohe Kommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Volker Türk, übte ebenfalls scharfe Kritik am Vorgehen Israels: Er sieht in den Angriffen auf den Gazastreifen einen möglichen Verstoß gegen das Völkerrecht. "Die intensiven israelischen Bombardierungen des Gazastreifens, unter anderem mit hochwirksamen Explosivwaffen in dicht besiedelten Gebieten, haben eindeutig verheerende humanitäre und menschenrechtliche Auswirkungen", sagte Türk. Angesichts der vorhersehbar hohen Zahl ziviler Opfer und der massiven Zerstörung ziviler Objekte hätten die UN "ernsthafte Bedenken, das es sich um unverhältnismäßige Angriffe handelt". Türk forderte, dass der Militäreinsatz Israels einer unabhängigen Untersuchung unterzogen werden solle.

Der UN-Kommissar rückte die Zerstörung von Krankenhäusern in den Fokus. Angriffe auf Kliniken erschwerten es der Bevölkerung, genau dort Hilfe zu suchen. Zudem kritisierte Türk die Forderung Israels, Krankenhäuser im Norden des Gazastreifens zu evakuieren. Das komme einem "Todesurteil" gleich. Bereits jetzt seien die Kliniken im Süden des Küstenstreifens völlig überlastet.

Baerbock will erneut vermitteln

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock unternahm unterdessen eine erneute Reise in den Nahen Osten, bei der sie sich unter anderem für die Freilassung deutscher Geiseln und eine Linderung der humanitären Not im Gazastreifen einsetzen wollte. "Gemeinsam mit unseren Partnern arbeiten wir ununterbrochen daran, mehr Wege und Optionen für effektive humanitäre Hilfe zu finden", erklärte sie vor ihrer Abreise in die Vereinigten Arabischen Emirate.

"Es ist unsere Verantwortung, uns dem unglaublichen Dilemma vor Ort weiter mit allen Kräften zu stellen", so Baerbock weiter. Israel habe das Recht und die Pflicht, "sich gegen den fortdauernden brutalen Hamas-Terror zu verteidigen, um seine Bevölkerung zu schützen." Zugleich müsse aber alles dafür getan werden, "das furchtbare Leid von unschuldigen Kindern, Frauen und Männern zu lindern". Dafür seien "humanitäre Feuerpausen" zentral.

Derzeitige Lage in Nahost: Tausende Menschen auf der Flucht

Gabriele Dunkel, ARD Tel Aviv, tagesschau, 10.11.2023 17:00 Uhr

Israel korrigiert Totenzahl nach unten

Am Freitag korrigierte die israelische Regierung die Zahl der Toten durch den Hamas-Angriff nach unten: Dabei seien etwa 1200 Menschen in Israel getötet worden, nicht 1400 wie bisher vermutet, sagte Außenministeriumssprecher Lior Haiat der AFP. Bei vielen der nach dem Angriff gefundenen und zunächst nicht identifizierten Leichen handele es sich offenbar um die von Hamas-Kämpfern, erläuterte Haiat.  

Björn Dake, ARD Tel Aviv, tagesschau, 11.11.2023 05:43 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 10. November 2023 um 21:45 Uhr.