Israelische Angriffe im Gazastreifen Appelle für mehr Schutz der Zivilbevölkerung
Während Israel den Einsatz im Gazastreifen fortsetzt, gerät die Lage der Zivilbevölkerung zunehmend in den Fokus: US-Außenminister Blinken forderte "viel mehr" humanitäre Hilfe - und die Kritik an Israels Vorgehen wird immer lauter.
Israels Bodentruppen rücken weiter im Gazastreifen vor. Die Armee berichtet, sie habe dabei erneut Terroristen getötet, die am Überfall auf Israel am 7. Oktober beteiligt waren. Zeitgleich machen sich offenbar immer mehr Menschen aus dem Norden auf den Weg in den Süden des Gazastreifens. Dort werden die Kämpfe im Vergleich zum Norden weniger intensiv geführt.
Graue Flächen: Bebaute Flächen im Gazastreifen
Unterdessen ist Außenministerin Annalena Baerbock erneut unterwegs in die Region. Sie besucht die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, die palästinensischen Gebiete und Israel. Dabei geht es auch um Szenarien für die Zeit nach dem Krieg. Am Samstag trifft sie dazu Mahmoud Abbas, den Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde, die Teile des Westjordanlandes kontrolliert.
Abbas hatte heute Bereitschaft signalisiert, die Autonomiebehörde könne im Gazastreifen die Regierung übernehmen. Er knüpfte das aber an die Perspektive auf einen unabhängigen palästinensischen Staat. Die Aussichten auf einen Palästinenserstaat hatten sich in den letzten Jahren auch mit dem Ausbau israelischer Siedlungen in den besetzten Gebieten allerdings verschlechtert. Länder wie Deutschland halten aber weiter an einer Zwei-Staaten-Lösung fest.
Baerbock für internationalen Schutz
Baerbock betonte heute noch einmal die Rechte der Zivilbevölkerung. Mit Blick auf die Zukunft des Gazastreifens dürfe es "keine Lösung über die Köpfe der Palästinenserinnen und Palästinenser hinweg geben", sagte sie. Ein entscheidender Punkt sei, "dass es keine Besetzung von Gaza geben darf, sondern bestmöglich einen internationalen Schutz". Zudem dürfe die palästinensische Bevölkerung nicht aus dem Gazastreifen vertrieben und dessen Gebiet nicht verkleinert werden.
Auch US-Außenminister Antony Blinken richtete den Blick heute auf die Lage der Zivilisten vor Ort. Er lobte bei einem Besuch im indischen Neu-Delhi die "Fortschritte", erklärte aber, es müsse "viel mehr getan werden, um die Zivilbevölkerung zu schützen und ihr humanitäre Hilfe zukommen zu lassen".
Scharfe Kritik vom UN-Hilfswerk UNRWA
Erst am Donnerstag hatte die US-Regierung mitgeteilt, dass Israel zugestimmt habe, täglich eine vierstündige Feuerpause im Norden des Gazastreifens einzuhalten. Dies solle zum einen den Menschen dort die Möglichkeit zur Flucht geben, zum anderen die Lieferung von humanitären Hilfsgütern ermöglichen. Eine generelle Waffenruhe will Israel nur in Betracht ziehen, wenn die Hamas die restlichen Geiseln freilässt, die sich nach wie vor in der Gewalt der Terrormiliz befinden sollen.
Schärfere Töne gegenüber Israel schlug Philippe Lazzarini an, der Leiter des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA). Er sagte: "Ganze Stadtteile dem Erdboden gleichzumachen, ist keine Antwort auf die ungeheuerlichen Verbrechen der Hamas." Der derzeitige Kurs der israelischen Behörden werde "nicht den Frieden und die Stabilität bringen, die sowohl Israelis als auch Palästinenser wollen und verdienen", sondern er drohe eine neue Generation von Palästinensern zu schaffen, "die den Kreislauf der Gewalt" vermutlich fortsetzen würden, so Lazzarini in einem Meinungsbeitrag.
Er gab weiter bekannt, dass seit Beginn des Krieges bereits mehr als 100 UNRWA-Mitarbeiter getötet worden. Er sei "erschüttert" über diese Zahl, so Lazzarini. "Das UNRWA trauert, die Palästinenser trauern, die Israelis trauern", schrieb Lazzarini weiter. Um die "Tragödie" zu beenden, sei eine "humanitäre Waffenruhe" erforderlich. Unter den getöteten UNRWA-Kollegen seien "Eltern, Lehrer, Krankenpfleger, Ärzte, Hilfskräfte". UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths erklärte auf X (vormals Twitter), die Nachricht mache ihn zutiefst traurig. Die getöteten UN-Mitarbeiter seien "Flammen der Hoffnung und der Menschlichkeit" gewesen.
UN befürchten Verstoß gegen Völkerrecht
Der Hohe Kommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Volker Türk, übte ebenfalls scharfe Kritik am Vorgehen Israels: Er sieht in den Angriffen auf den Gazastreifen einen möglichen Verstoß gegen das Völkerrecht. "Die intensiven israelischen Bombardierungen des Gazastreifens, unter anderem mit hochwirksamen Explosivwaffen in dicht besiedelten Gebieten, haben eindeutig verheerende humanitäre und menschenrechtliche Auswirkungen", sagte Türk. Angesichts der vorhersehbar hohen Zahl ziviler Opfer und der massiven Zerstörung ziviler Objekte hätten die UN "ernsthafte Bedenken, das es sich um unverhältnismäßige Angriffe handelt". Türk forderte, dass der Militäreinsatz Israels einer unabhängigen Untersuchung unterzogen werden solle.
Der UN-Kommissar rückte die Zerstörung von Krankenhäusern in den Fokus. Angriffe auf Kliniken erschwerten es der Bevölkerung, genau dort Hilfe zu suchen. Zudem kritisierte Türk die Forderung Israels, Krankenhäuser im Norden des Gazastreifens zu evakuieren. Das komme einem "Todesurteil" gleich. Bereits jetzt seien die Kliniken im Süden des Küstenstreifens völlig überlastet.
Es fehlt an medizinischer Ausrüstung und Strom
Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnte, dass die Krankenhäuser, die noch in Betrieb seien, nur noch im Notmodus arbeiten könnten. Für die Versorgung von Patientinnen und Patienten fehle es an medizinischer Ausrüstung und Strom. Inzwischen werden laut WHO im gesamten Gazastreifen nur noch 16 von insgesamt 36 Kliniken überhaupt betrieben.
Auch Norwegen sieht Verstoß gegen Kriegsvölkerrecht
Auch Norwegens Ministerpräsident Jonas Gahr Støre wirft Israel den Bruch des Kriegsvölkerrechts vor, da "Zivilisten das Recht auf Schutz haben", sagte der Regierungschef in einem Interview mit dem norwegischen Rundfunksender NRK. Ob es sich bei diesen Verstößen auch um Kriegsverbrechen handele, müssten Gerichte klären.
Wie Türk warf auch Gahr Støre die Frage auf, ob das militärische Vorgehen im Gazastreifen Israel auf lange Sicht Sicherheit geben kann. "Die Kinder, die diese Hölle in Gaza überleben, werden in Zukunft nicht versöhnlich eingestellt sein", warnte er und fügte hinzu: "Das ist ein Krieg, der nach meiner Auffassung mit einer sehr starken militärischen Logik geführt wird, aber ohne eine klare politische Idee, wie das enden soll."
Hunderte Kämpfer der islamistischen Terrormiliz Hamas waren am 7. Oktober nach Israel eingedrungen und hatten zahllose Gräueltaten an Zivilisten verübt. Nach israelischen Angaben wurden dabei etwa 1.400 Menschen getötet und rund 240 Menschen in den Gazastreifen verschleppt. Als Reaktion auf den Angriff hat Israel der Hamas den Krieg erklärt und greift seitdem Ziele im Gazastreifen an.
Mit Informationen von Jan-Christoph Kitzler, ARD-Studio Tel Aviv