Russische Außenpolitik Autoritäres Land beklagt mangelnde Demokratie
Moskau hat den baltischen Staaten vorgeworfen, nach der Unabhängigkeit nicht zu demokratischen Rechtsstaaten geworden zu sein. Allerdings liegen die kritisierten Länder in Demokratie-Ranglisten weit vor Russland.
Von Patrick Gensing, ARD-faktenfinder
Die Beziehungen zwischen Russland und den baltischen Staaten Estland, Litauen und Lettland sind seit deren Unabhängigkeit im Jahr 1991 angespannt. Der EU- und NATO-Beitritt der Länder beruhigte die Situation keineswegs, im Gegenteil: Militärische Drohgebärden gab es immer wieder, auf beiden Seiten wurde aufgerüstet.
Zudem spielen Desinformation und Propaganda eine immense Rolle in dieser Region. Nach der Stationierung von Bundeswehrsoldaten wurde unter anderem gezielt das Gerücht gestreut, deutsche Soldaten hätten eine Frau vergewaltigt.
Attacke auf Twitter
Aktuell versucht Russland, die baltischen Staaten als undemokratisch darzustellen. Das russische Außenministerium behauptete auf Twitter, die drei Länder seien nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion "leider" nicht zu demokratischen Rechtsstaaten geworden.
Russlands Außenministerium attackierte auf Twitter die baltischen Staaten.
Ein Vorwurf, den der lettische Außenminister postwendend zurückwies. Es gebe Lügen, große Lügen und die Tweets des russischen Außenministeriums, kommentierte Edgars Rinkēvičs.
Ranglisten zum Stand der Demokratie
Wie steht es also um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Baltikum? Und ist Russland dazu berufen, Mängel in anderen Staaten zu kritisieren? Verschiedene Medien, Organisationen und Thinktanks untersuchen kontinuierlich, wie es international um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bestellt ist. Das Magazin "The Economist" erstellt beispielsweise einen Demokratie-Index. Experten untersuchen und bewerten dafür unter anderem Wahlen und Pluralismus, Funktionsweise und Kontrolle der Regierung, politische Teilhabe sowie Bürgerrechte.
Ergebnis für 2018: Die baltischen Staaten landen zwischen Platz 23 bis 38 - in der Kategorie "unvollständige Demokratie". Insbesondere bei politischer Teilhabe und Kultur gebe es Mängel. Insgesamt kategorisiert der "Economist" 20 Staaten als "vollständige Demokratie". Russland stuft der Index als autortäres Regime auf Platz 144 ein - von insgesamt 167 analysierten Staaten.
Baltische Staaten weit vor Russland
Die "Freedom in the World"-Liste führt die baltischen Staaten hingegen allesamt als "frei" auf. Estland liegt mit 94 von 100 Punkten gleichauf mit Deutschland, Litauen erreicht 91 und Lettland 87 Punkte. Russland kommt auf 20 Punkte und wird als nicht freier Staat bewertet. Es gebe dort allgegenwärtige, nationalistische Propaganda und politische Unterdrückung, heißt es in dem Report.
Land | Punkte von 100 |
---|---|
Norwegen | 100 |
Schweden | 100 |
Finnland | 100 |
... | |
Estland | 94 |
Deutschland | 94 |
... | |
Litauen | 91 |
... | |
Lettland | 87 |
... | |
Russland | 20 |
Auch die Skalen über den globalen Stand der Demokratie stuft die baltischen Staaten in sämtlichen Kategorien deutlich positiver als Russland ein.
Organisationen wie Reporter ohne Grenzen untersuchen zudem die Pressefreiheit weltweit. In ihrer Rangliste steht Estland auf Platz elf, Lettland auf 24 und Litauen folgt auf Platz 30. Russland liegt auf Rang 149 von insgesamt 163 Staaten.
Rang | Land | Änderung |
---|---|---|
1 | Norwegen | +/-0 |
2 | Finnland | +2 |
3 | Schweden | -1 |
... | ||
11 | Estland | +1 |
... | ||
13 | Deutschland | +2 |
... | ||
24 | Lettland | +/-0 |
... | ||
30 | Litauen | +6 |
... | ||
149 | Russland | -1 |
Im "Global Peace Index" liegt Russland sogar nur auf Platz 154 von 163 Staaten. Untersuchte Kriterien sind unter anderem geführte Kriege, Misstrauen in Mitbürger, Zahl der Polizisten und Soldaten oder auch die Beziehungen zu den Nachbarländern. Die baltischen Staaten kommen hier auf Plätze zwischen Rang 35 und 38.
Human Rights Watch veröffentlicht ebenfalls einen jährlichen Report, der die Situation der Menschenrechte analysiert. Die baltischen Staaten tauchen hier gar nicht erst auf, Russland wird hingegen unter der Überschrift "Die dunkle Seite der autoritären Herrschaft" geführt. Unter anderem tue Moskau alles, um die globale Durchsetzung von Recht zu verhindern, während es im eigenen Land die repressivste Herrschaft seit Jahrzehnten gebe.
Vorwurf ist falsch
Die baltischen Staaten werden von verschiedenen Experten und Organisationen also als überwiegend oder vollständig demokratisch sowie frei eingestuft. Grundrechte werden geschützt, die Regierung kontrolliert. Mängel gibt es dem Demokratie Index zufolge bei der politischen Kultur.
Russland liegt in sämtlichen entsprechenden Ranglisten zu Demokratie und Grundrechten weit hinter den baltischen Staaten, die Moskau als angeblich nicht-demokratisch attackiert hat. Die Vorwürfe des russischen Außenministeriums sind somit nicht nur falsch, sie sollen zudem mutmaßlich von den fehlenden demokratischen und rechtsstaatlichen Standards im eigenen Land ablenken - und sind somit selbst ein Beispiel für Propaganda und aggressive Außenpolitik.