Ein Mann wird auf das Coronavirus getestet.
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Sieben-Tage-Inzidenz Warum sind die Werte im Osten niedriger?

Stand: 05.07.2022 10:19 Uhr

Die Inzidenzen in den östlichen Bundesländern liegen derzeit klar unter denen anderswo. In Verschwörungskreisen wird das mit der niedrigeren Impfquote erklärt. Was sind die wahren Ursachen?

Von Anna Behrend, NDR, und Pascal Siggelkow, Redaktion ARD-faktenfinder

Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz in Deutschland steigt seit einigen Wochen wieder deutlich an. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sprach bereits von einer Corona-Sommerwelle. Doch bei einem Blick auf die Entwicklungen fällt auf: Zwischen den Bundesländern gibt es gewaltige Unterschiede. Während die Inzidenzen in Niedersachsen und Schleswig-Holstein bereits über die Schwelle von 900 gestiegen sind, liegen die Werte in Thüringen und Sachsen noch unter 400.

Generell fällt auf, dass alle ostdeutschen Bundesländer - bis auf Mecklenburg-Vorpommern - sogar deutlich unter der bundesweiten Inzidenz von 687,7 liegen. Und das, obwohl Sachsen, Brandenburg und Thüringen bei der Impfquote zu den Schlusslichtern gehören. In Verschwörungskreisen wird bereits von einem "negativen Schutz" insbesondere der Boosterimpfungen fabuliert, die Zahlen würden eindrucksvoll die Wirkungslosigkeit der Impfungen belegen. Aber gibt es wirklich einen kausalen Zusammenhang zwischen der Impfquote und der Inzidenz?

Impfung schützt vor schwerem Verlauf und Tod

Fest steht: Ungeimpfte, die sich mit dem Coronavirus infizieren, haben ein deutlich höheres Risiko, auf einer Intensivstation behandelt werden zu müssen oder zu sterben als Geimpfte. Das gilt sowohl für die aktuell kursierende Omikron-Variante als auch die im Herbst und Winter vergangenen Jahres vorherrschende Delta-Variante. Für das vergangene Jahr untersuchten unter anderem Jenaer Forscher die Übersterblichkeit in den deutschen Bundesländern und setzten sie mit der regionalen Impfquote in Beziehung. Das Fazit: Wo die Impfquote hoch war, war die Übersterblichkeit vergleichsweise gering. Die Impfung ist somit weiterhin ein entscheidender Faktor dafür, dass das Gesundheitssystem nicht überlastet wird.

Viele Impfdurchbrüche bei Omikron-Variante

Da für die Inzidenz jedoch die Schwere des Verlaufs einer Infektion unerheblich ist, kommt es auf die sogenannten Impfdurchbrüche an - also ob sich Menschen trotz Impfung infizieren. Bei der Delta-Variante schützen die verfügbaren Impfstoffe relativ gut vor einer symptomatischen Infektion. Dies könnte ein Grund sein, warum sich die Inzidenzzahlen in der Delta-Welle im vergangenen Winter regional genau umgekehrt verhielten wie derzeit: Damals waren sie dort niedrig, wo die Impfquote hoch war.

Bei der Omikron-Variante ist die Situation etwas anders: Die Impfung schützt hier zwar vor schwerem Verlauf und Tod durch Covid-19, jedoch laut RKI-Angaben kaum vor einer Infektion an sich.

Ohnehin sei die Unterscheidung zwischen geimpften und ungeimpften Personen bei der Entwicklung des Infektionsgeschehens immer weniger sinnvoll, sagt Johannes Knobloch, Facharzt für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Denn durch die extrem hohen Fallzahlen hätten auch sehr viele ungeimpfte Menschen mittlerweile mindestens einen Kontakt zu Covid-19 gehabt. "Ebenso ist bei vielen geimpften Personen zwischenzeitlich eine zusätzliche Infektion aufgetreten. Um eine umfassende Aussage zu treffen, müsste man also viele Untergruppen miteinander vergleichen."

Einige Studien weisen darauf hin, dass mit Omikron infizierte Geimpfte etwas weniger ansteckend sind als Ungeimpfte, doch bislang reicht die Datenlage nicht aus, um dies abschließend zu beurteilen. Für alle Virusvarianten gilt: Dafür, dass eine Impfung die Ansteckung mit dem Coronavirus befördert, gibt es keine wissenschaftlichen Hinweise.

Inzidenz nur eingeschränkt aussagekräftig

Wenn jedoch die Impfquote in der Omikron-Welle nicht der ausschlaggebende Faktor für die Entwicklung der Inzidenz ist, wie kommt es dann, dass die Zahl der Neuinfektionen in den östlichen Bundesländern derzeit vergleichsweise niedrig ist?

Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass die aktuellen Infektionszahlen nur bedingt aussagekräftig sind. "Man muss immer auch bedenken, dass Inzidenzen anhand gemeldeter Laborergebnisse berechnet werden", sagt Knobloch. Nach wie vor zählen nur positive PCR-Tests in die RKI-Statistik. Die Bereitschaft, sich testen zu lassen sowie die Zugänglichkeit zu PCR-Tests hätten daher aktuell einen sehr großen Einfluss auf die gemessene Inzidenz. Deren Aussagekraft sei deshalb "nur noch sehr begrenzt". "Die Dunkelziffer liegt aktuell wahrscheinlich höher im Vergleich zu allen bisherigen Phasen der Pandemie."

Ob die Infektionswelle steigt oder sinkt, lässt sich nach Ansicht von Experten jedoch weiter an der Inzidenz ablesen. Vorsicht ist jedoch bei regionalen Vergleichen geboten, da sich die Teststrategien und damit auch die Testanzahl in den Bundesländern sehr unterscheiden. Weniger Tests bedeuten auch, dass weniger Infektionen erkannt werden.  

Ein hoher Anteil positiver Tests gibt somit auch einen Hinweis auf eine hohe Dunkelziffer, wie zum Beispiel in Bremen (86 Prozent) oder Thüringen (55 Prozent). Doch es ist mitnichten so, dass alle Ost-Bundesländer eine verdächtig hohe Positivrate hätten im Vergleich zu den anderen. Das unterschiedliche Testgeschehen allein kann die dort derzeit niedrige Inzidenz also auch nicht erklären.

Ost-Bundesländer schon stärker durchseucht?

Wäre die Inzidenz in Wahrheit sehr viel höher, würde man zudem erwarten, dass sich dies mit einigen Tagen Verzögerung auch auf den Intensivstationen bemerkbar macht. Denn ein bestimmter Anteil aller Infizierten erleidet einen schweren Verlauf und muss im Krankenhaus behandelt werden. Der Anteil an Covid-Patienten auf den Intensivstationen ist jedoch derzeit im Bundesvergleich in den Ost-Bundesländern nicht auffällig hoch. 

Waren in den Niedrig-Inzidenz-Ländern also vielleicht schon die meisten Menschen infiziert und sind nun immun? Wer sich mit dem Coronavirus infiziert, bildet in der Regel Antikörper dagegen. Wie lange und wie gut diese gegen eine erneute Infektion mit dem Virus schützen, ist noch nicht abschließend erforscht. Nimmt man aber einmal an, dass zumindest eine Zeit lang ein Schutz besteht, so wäre ein denkbarer Grund für die niedrige Inzidenz in bestimmten Bundesländern, dass dort in der Vergangenheit bereits mehr Menschen mit dem Virus in Kontakt gekommen sind und sich daher nun weniger häufig anstecken. 

Wie stark die Bevölkerung in welchem Bundesland bereits mit dem Virus durchseucht ist, ist aufgrund fehlender Studien nicht genau bekannt. Betrachtet man die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner seit Jahresbeginn als grobe Näherung für die Durchseuchung mit der aktuell kursierenden Omikron-Variante, so bestätigt sich die Vermutung nicht, dass die Bevölkerung der Ost-Bundesländer bereits stärker mit dieser in Kontakt gekommen ist. Einzig Mecklenburg-Vorpommern weist hier von den Ost-Ländern im Bundesvergleich eine eher hohe pro-Kopf-Zahl an Infektionen seit Jahresbeginn auf.

Regionales Auftreten neuer Varianten

Ein Grund, warum bundesweit die Inzidenzen überhaupt so stark steigen, sind die Omikron-Subtypen BA.4 und BA.5. Diese werden von Experten als ansteckender eingeschätzt als die bisher bekannten "Schwestervarianten". BA.5 ist mittlerweile mit 65,7 Prozent dominierend hierzulande, Tendenz klar steigend. Somit ist davon auszugehen, dass die Zahl der Neuinfektionen in den kommenden Wochen weiter steigen wird.

In welchen Bundesländern die neuen Subtypen bereits grassieren, wird vom RKI aufgrund von zu wenig Stichproben seit April nicht mehr veröffentlicht. Ein Vergleich wäre aufgrund zu großer Schwankungen nicht mehr aussagekräftig. Dennoch ist es natürlich möglich, dass einige Bundesländer bereits stärker von den neuen Subtypen betroffen sind als andere, denen das vielleicht erst noch bevorsteht. Weitere Faktoren wie die Bevölkerungsdichte und das Kontaktverhalten haben ebenfalls Einfluss auf die Verbreitung des Virus und somit auf die Sieben-Tage-Inzidenz.

"Wir sehen seit dem Herbst des letzten Jahres unterschiedliche epidemiologische Verläufe in den verschiedenen Bundesländern, sodass wir gar keine parallelen Verläufe der Inzidenzkurven in allen Bundesländern mehr erwarten", sagt Knobloch. "Neu auftretende Varianten oder Untervarianten können sich erst mit einigen Wochen Abstand in anderen Regionen genauso deutlich bemerkbar machen."

Wie sich das Virus ausbreitet und welche Inzidenz regional gemessen wird, hängt also von vielen Faktoren ab. Fest steht jedoch, dass es keinen wissenschaftlich fundierten Grund zu der Annahme gibt, eine hohe Impfquote könne mitverantwortlich für eine hohe Inzidenz sein. Im Gegenteil: Wissenschaftliche Daten deuten eher darauf hin, dass mit Omikron infizierte Geimpfte etwas weniger häufig andere Menschen anstecken als Ungeimpfte.