Studie der Berliner Charité Kein Nachweis für vermehrte Impfnebenwirkungen
Einer Studie der Berliner Charité zufolge soll es 40 Mal häufiger zu schweren Impfnebenwirkungen bei Corona-Vakzinen kommen als vom PEI angegeben. Doch an der Methodik und dem Ergebnis gibt es starke Zweifel.
Mögliche Nebenwirkungen der Corona-Impfstoffe sind bereits seit einiger Zeit Streitthema. Besonders in Verschwörungskreisen werden die offiziellen Zahlen des Paul-Ehrlich-Instituts immer wieder angezweifelt. Doch vergangene Woche lieferte auch eine noch unveröffentlichte Studie der Berliner Charité zu den Nebenwirkungen der Corona-Impfungen Futter für diese These: Harald Matthes, Leiter der Studie, behauptete gegenüber dem MDR, dass die Zahl schwerer Komplikationen in Wahrheit 40 Mal so hoch sei, als vom PEI erfasst wurde.
Dabei stützt sich Matthes auf eine Umfrage, die seit rund einem Jahr die Nebenwirkungen der Corona-Impfstoffe erforscht. Etwa 40.000 geimpfte Menschen hätten an der Studie teilgenommen - acht von 1000 Geimpften kämpften demnach mit schweren Nebenwirkungen. Das entspräche 0,8 Prozent der Geimpften oder umgerechnet jedem 125. Zum Vergleich: Das Paul Ehrlich Institut (PEI) kommt auf 0,02 Prozent pro Impfdosis.
Studienleiter fordert Konsequenzen
Dem MDR sagt Studienleiter Matthes, dass diese Zahlen "nicht überraschend" seien. Er verweist auf Studien mit ähnlichen Ergebnissen aus dem Ausland. Angesichts rund 179 Millionen verimpfter Dosen in Deutschland würde das bedeuten, dass etwa 500.000 Geimpfte mit schweren Nebenwirkungen zu kämpfen hätten. Matthes fordert deshalb, dass die "Ärzte tätig" werden müssten. "Wir müssen zu Therapieangeboten kommen, auf Kongressen und in der Öffentlichkeit offen darüber diskutieren, ohne dass wir als Impfgegner gelten."
Wie aussagekräftig ist die Studie?
Für seine vorab geteilten Studienergebnisse erntete Matthes jedoch auch einige Kritik. So erklärte der Direktor der Klinik für Infektiologie und Impfstoffforscher der Charité, Leif Erik Sanders, dem ARD-faktenfinder: "Mit erscheint vor allem problematisch, dass die Begrifflichkeiten nicht sauber definiert beziehungsweise getrennt werden."
Matthes berichtet wiederholt von "schweren Nebenwirkungen", die von 0,8 Prozent der Befragten angegeben werden und verweist auf vergleichbare Daten aus Placebo-kontrollierten Studien. Hierbei werde allerdings vermengt, dass in den zitierten Studien alle sogenannten "unerwünschten Ereignisse" erfasst werden, also auch solche, "die nicht unbedingt im Zusammenhang mit der Impfung stehen" sagt Sanders. "Daher unterscheidet man 'unerwünschte Ereignisse' von 'unerwünschten Arzneimittelwirkungen' also eigentlichen 'Nebenwirkungen'.'"
Studien aus anderen Ländern stützen These nicht
Der Begriff "schwere Nebenwirkung", der in diesem Zusammenhang mehrfach genannt wurde, sei sehr klar definiert und könne nicht mit jeglichem "unerwünschten Ereignis" gleichgesetzt werden. "Die Verwendung ist in diesem Zusammenhang also nicht korrekt und suggeriert zudem, dass ein Kausalzusammenhang mit der Impfung besteht, welcher gar nicht überprüft werden kann."
So nimmt Matthes unter anderem Bezug auf eine Studie des Impfstoffherstellers Pfizer, bei der bei 0,6 Prozent der Geimpften "schwere unerwünschte Ereignisse" festgestellt wurden. Allerdings war das auch bei 0,5 Prozent der Kontrollgruppe der Fall, die lediglich einen Placebo erhalten hatte. "Das zeigt, dass die Rate der unerwünschten Ereignisse in der Placebo-Gruppe in den Zulassungsstudien statistisch genauso häufig berichtet wurde - das heißt, die Ereignisse traten unabhängig von der Impfung in der gesamten Studienpopulation auf."
Tatsächlich existieren zahlreiche sehr große Untersuchungen, die sich auf detaillierte Gesundheitsdaten von mehreren Millionen Personen, unter anderem aus Israel oder den USA stützen, die die Rate der Impfkomplikationen sehr präzise angeben, so Sanders: "Hier zeigt sich durchweg, dass Impfkomplikationen wie die Herzmuskelentzündung sehr selten auftreten. Eine Rate von 0,8 Prozent 'schwerer Nebenwirkungen' ist aus diesen qualitativ hochwertigen, international unabhängig begutachteten Studien nicht ableitbar."
Kritik an der Methode
Ein weiterer Kritikpunkt an der Studie ist die angewandte Methode: Die Teilnehmer werden nicht repräsentativ ausgewählt, zudem gibt es keine Kontrollgruppe. Interessenten konnten sich selbst anmelden, wofür eine E-Mail-Adresse ausreicht. Eine Überprüfung der Daten findet nicht statt.
Für die Auswertung und die Validität der Ergebnisse sei das ein Problem: Auf diese Weise erhalte man lediglich eine Auflistung möglicher Impfreaktionen, erklärt Thomas Bauer, Professor am RWI - Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und Mitinitiator des Projekts "Unstatistik", dazu dem ARD-faktenfinder: "Möchte man hingegen ein Bild über die Häufigkeit von Impfreaktionen erhalten, ist es schwierig, über eine freiwillige Internetbefragung einen repräsentativen Datensatz aufzubauen."
Auswahl problematisch, Möglichkeiten zur Manipulation
So könne man beispielsweise davon ausgehen, dass der Datensatz selektiv in dem Sinne sei, dass Personen mit Impfreaktionen wahrscheinlich überproportional häufig an der Studie teilnehmen, sagt Bauer. "Diese haben tendenziell ein größeres Interesse an einer Teilnahme." Ein weiteres Problem der Untersuchung: "Man kann nicht prüfen, ob hier Personen mehrfach und korrekt auf die Fragen antworten."
Um die Daten - trotz der Schwächen bei der Erhebung - zumindest teilweise korrekt interpretieren zu können, müsse man diese ins Verhältnis zur Gesamtbevölkerung setzen, so Bauer: "Man kann einen nicht-repräsentativen Datensatz über eine geeignete Gewichtung repräsentativ machen. Hierzu benötigt man zusätzliche Informationen - Alter, Geschlecht, Ausbildung, Familienstand, Migrationshintergrund, um nur die wichtigsten zu nennen -, die man dann unter Verwendung entsprechender Informationen einer repräsentativen Befragung, beispielsweise des Mikrozensus, gewichtet".
Charité distanziert sich
Mehrere Anfragen des ARD-faktenfinders an Studienleiter Matthes bezüglich der Kritik an seinem Vorgehen blieben unbeantwortet. Inzwischen distanzierte sich die Charité in einer Antwort an das ZDF von dessen Arbeit. Es handele sich lediglich um eine offene Internetumfrage und nicht um eine wissenschaftliche Studie, erklärte ein Sprecher.
PEI erwartet keine "hohe Dunkelziffer"
Auch das PEI hält den Vorwurf einer ausgeprägten Untererfassung schwerwiegender Impfnebenwirkungen für abwegig. In die Sicherheitsbewertung der Covid-19-Impfstoffe würden neben den Daten aus Deutschland auch internationale Meldungen über den Verdacht auf Nebenwirkungen und Impfkomplikationen sowie Daten aus internationalen Sicherheitsstudien einfließen, schreibt das PEI auf Anfrage des ARD-faktenfinders.
Weltweit gebe es inzwischen Erfahrungen mit sehr vielen Impfungen in sehr unterschiedlichen Gesundheitssystemen, so dass nicht davon auszugehen sei, dass neue Risikosignale unentdeckt bleiben würden. Von einer "hohen Dunkelziffer" für die Corona-Impfstoffe sei daher "nicht auszugehen". Anhand der öffentlich verfügbaren Informationen zum Design der Studie von Matthes sei hingegen anzunehmen, "dass die Aussagekraft der Studie unter anderem durch systematische Verzerrung stark eingeschränkt ist".
Eigene Studie zu Impfreaktionen geplant
Das PEI weist zudem daraufhin, dass die Erfassung der Verdachtsfallmeldungen von Nebenwirkungen und Impfkomplikationen vor allem dazu diene, "mögliche Risikosignale frühzeitig zu entdecken, um Maßnahmen zur Risikoreduktion ergreifen zu können". Es handele sich "nicht um eine Kompletterfassung aller unerwünschten Reaktionen".
Um einer möglichen Untererfassung entgegenzuwirken, registriere das PEI sowohl "Meldungen von Angehörigen der Gesundheitsberufe als auch von Impflingen und deren Angehörigen". Weiterhin führe das Institut eine Studie zur Vollerfassung unerwünschter Reaktionen nach der Corona-Impfung durch. Diese Studie sei derzeit noch nicht abgeschlossen. Bis zum 31. März seien bundesweit 296.233 Verdachtsfälle von Nebenwirkungen bei insgesamt 172.062.925 Impfungen gemeldet worden.
Ergänzung vom 16.5.: Die Charité hat das Impfsurv-Projekt vorerst ausgesetzt:
"Bei dieser Untersuchung handelt es sich um eine noch nicht einmal abgeschlossene offene Internetumfrage, im engeren Sinne also nicht um eine wissenschaftliche Studie. Diese Datenbasis ist nicht geeignet, um konkrete Schlussfolgerungen über Häufigkeiten in der Gesamtbevölkerung zu ziehen und verallgemeinernd zu interpretieren", erklärte ein Sprecher dem ARD-faktenfinder. Als Stiftungsprofessor könne Matthes im Rahmen der Wissenschaftsfreiheit an der Charité wissenschaftlich arbeiten, also forschen und lehren. Er müsse dabei aber die Regelungen für Gute klinische Praxis, Gute wissenschaftliche Praxis sowie die Auflagen der Ethikkommission für seine Untersuchungen einhalten, hieß es weiter. "Wir prüfen aktuell, ob diese Vorgaben eingehalten wurden. Bis auf Weiteres weisen wir daher aktuell über die Internetpräsenz der Charité auf diese offene Internetumfrage nicht hin.“
Matthes' Stiftungsprofessur für Integrative und Anthroposophische Medizin an der Charité wird durch die Software AG gefördert.