Mehlwürmer in einer Schüssel
faktenfinder

Insekten als Nahrungsmittel Futter für die Verschwörungsszene

Stand: 20.03.2024 10:50 Uhr

Vier Insektenarten sind derzeit als Lebensmittel in der EU zugelassen. Verschwörungskreise sehen darin eine versuchte Umerziehung der Bürger durch die "Eliten" - und verbreiten allerlei Desinformation.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

"Chitinase - Die Große Gefahr beim Insektenfraß": Mit diesem Titel wird unter anderem auf YouTube ein Video verbreitet, in dem die vermeintlichen Gefahren beim Verzehr von Insekten (Entomophagie) thematisiert werden. Nicht nur bestehe die Möglichkeit, dass dadurch Krankheiten ausgelöst werden könnten; der Staat versuche dadurch auch, die Menschen abhängig zu machen. Denn das Essen von Insekten werde von oben "diktiert" und solle Nahrungsmittel wie Fleisch, Gemüse und Obst ersetzen.

Das Video gliedert sich ein in eine Reihe von Verschwörungserzählungen zum Thema Insekten als Lebensmittel, sagt Miro Dittrich vom Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS). "Es ist schon seit mindestens einem Jahrzehnt in der verschwörungsideologischen Szene sehr beliebt." Das verschwörungsideologische Weltbild sehe wie folgt aus: Es gebe eine geheime Elite, die Zukunftspläne schmiede, in der die Menschen nichts besäßen und nur Insekten äßen. "Durch diese Verschwörungserzählung wird der politische Feind dämonisiert", sagt Dittrich.

Vier Insektenarten als Lebensmittel zugelassen

In den vergangenen Jahren habe das Thema noch einmal an Fahrt aufgenommen, so Dittrich. Denn in der EU sind inzwischen vier Insektenarten als Lebensmittel zugelassen. Als erstes erhielt der getrocknete Mehlwurm im Mai 2021 die Zulassung. Es folgten die Wanderheuschrecke, der Buffalowurm und die Hausgrille, für die auch teilweise entfettetes Pulver zugelassen ist.

Anders als in verschwörungsideologischen Kreisen oftmals behauptet, werden Insekten vor der Zulassung als Lebensmittel von der Europäischen Agentur für Lebensmittelsicherheit (EFSA) wissenschaftlich untersucht und bewertet. Denn Insekten zählen zu den sogenannten "neuartigen Lebensmitteln". Darunter fallen jene Nahrungsmittel, die in der EU vor Mai 1997 nicht in größeren Mengen konsumiert wurden.

"Es gibt keine bekannten Schäden durch den Verzehr von Insekten, im Gegenteil", sagt Andreas Vilcinskas, Professor am Institut für Insektenbiotechnologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. So sei beispielsweise das Eiweiß aus Insekten sehr gesundheitsfördernd. Auch die UN-Ernährungsorganisation FAO verweist auf verschiedene Studien, die den gesundheitlichen Nutzen von Entomophagie belegen. Neben den hochwertigen Proteinen enthalten Insekten beispielsweise auch Ballaststoffe sowie Mikronährstoffe wie Eisen, Magnesium und Zink. Unter anderem in Asien werden Insekten für den Verzehr genutzt und sind normaler Bestandteil des Lebensmittelangebots.

Chitin kein Gesundheitsrisiko

In verschwörungsideologischen Kreisen wiederum wird oftmals auf vermeintliche Gesundheitsrisiken durch den Verzehr von Insekten verwiesen. Ein häufiges Argument dabei lautet, dass das Chitin, welches ein Bestandteil des Panzers von Insekten ist - beispielsweise auch von Krustentieren -, Krankheiten auslösen könne. Doch das ist aus verschiedenen Gründen falsch, sagt Vilcinskas.

Denn anders als behauptet, werden auch Insekten nicht einfach als Ganzes für die Nahrungsmittelindustrie verwertet. "Das sind keine geschredderten Insekten", sagt Vilcinskas. "Man will in der Regel die Fette und die Eiweiße separat haben. Die werden daher gezielt abgetrennt." Ähnlich wie beispielsweise bei Krebstieren lasse sich das Chitin, ein Vielfachzucker, isolieren, das dann zu Chitosan umgewandelt und zum Beispiel an die Kosmetikindustrie weiterverkauft werde. Auch als Düngemittel wird Chitin eingesetzt. Doch auch wenn der Mensch Chitin verzehrt, gibt es keine Hinweise darauf, dass dies Krankheiten auslöst.

In verschwörungsideologischen Beiträgen wird auf den hohen Chitinasewert hingewiesen, der mit einigen Krankheiten einhergeht. Chitinase ist ein Enzym, das für den Abbau von Chitin verantwortlich ist. Bei einigen Krankheiten wie zum Beispiel der Erbkrankheit Morbus Gaucher oder Asthma sind die Chitinasewerte im Körper erhöht.

Allerdings ist das aus Sicht von Experten kein Beleg dafür, dass auch der Konsum von chitinhaltigen Lebensmitteln diese Krankheiten auslösen kann. Denn der Verzehr von Insekten hat gar keinen Einfluss auf den Chitinasespiegel im Körper, wie Wissenschaftler der Nachrichtenagentur AFP sagten. Die hohen Chitinasewerte bei einigen Krankheiten seien nicht deren Ursache, sondern lediglich deren Begleiterscheinungen, die als diagnostischer Marker genutzt würden.

Insekten müssen in Zutatenliste genannt werden

In Verschwörungskreisen wird zudem oft behauptet, dass Insekten in Lebensmitteln nicht in der Zutatenliste deklariert werden müssten. Doch auch das stimmt nicht. Insekten müssen nach Angaben der Bundesregierung in der Zutatenliste "klar und verständlich" gekennzeichnet werden. "Dabei müssen der lateinische und der deutsche Name genannt werden." Zusätzlich müsse angegeben werden, in welcher Form das Insekt verwendet wurde, zum Beispiel als Pulver oder Paste, heißt es weiter. Auch Hinweise auf mögliche allergische Reaktionen bei Menschen mit einer Allergie gegen Krebs- und Weichtiere sowie gegen Hausstaubmilben müssen aufgeführt sein.

Als Lebensmittelzusatzstoffe werden allerdings schon länger auch Insekten genutzt. Lebensmittelzusatzstoffe sind Stoffe, die Lebensmitteln "aus technologischen Gründen" zugesetzt werden, wie das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit schreibt. Sie werden als E-Nummern gekennzeichnet. Der Lebensmittelfarbstoff E120 wird zum Beispiel aus Läusen gewonnen. Die Zulassung für E-Stoffe von der EFSA erfolgt allerdings nur, wenn der Stoff nachweislich gesundheitlich unbedenklich und technisch notwendig ist.

Nachhaltigkeit großer Vorteil

Insgesamt werden Insekten in Europa momentan vor allem in der Tierfuttermittelindustrie verwendet, sagt Vilcinskas. Dass auch die Europäer irgendwann wie Menschen unter anderem in Asien Insekten verzehren werden, glaubt Vilcinskas fest. Denn neben den guten Nährwerten gebe es einen weiteren großen Vorteil: die Nachhaltigkeit.

"Im Vergleich zu beispielsweise Kühen produziert die Haltung von Insekten deutlich weniger Treibhausgase, es wird weniger Wasser benötigt und auch weniger Fläche." Zudem könnte von Insekten deutlich mehr verwertet werden. Es gehe nicht darum, Menschen zu zwingen, Insekten zu essen. Sie seien allerdings eine sinnvolle Alternative.

Genau das wird in einigen Kreisen aber anders dargestellt. Das Thema Fleisch und Fleischersatz werde sehr emotional diskutiert, sagt Dittrich. "Alternativen werden als Angriff gesehen. Dabei will ja niemand das Steak verbieten." Die Abwehrhaltung führe jedoch schnell zu Aggression, um sich nicht mit den Konsequenzen des eigenen Handelns auseinanderzusetzen.

Bereits durch das erhöhte Angebot an Sojaprodukten wurde die Verschwörungserzählung um den sogenannten Soy boy, also Soja-Jungen, verbreitet. Dort wurde der erhöhte Sojakonsum unter anderem in rechtskonservativen Kreisen als Ursache für männliche Feministen ausgemacht. Dabei ist die Behauptung wissenschaftlich nicht haltbar, dass die in Soja enthaltenen Phytoöstrogene zu einer "Verweiblichung" bei Männern führe.

Vielmehr zeigen solche Beispiele aus Sicht von Dittrich die grundlegenden Dynamiken von Verschwörungserzählungen. "Eine mögliche Alternative für ein grundsätzliches Problem wird so umgedeutet, dass es ins eigene Weltbild passt. Es ist die totale Simplifizierung von der Welt: Anstatt sich mit irgendwelchen komplexen Themen wie der Bedeutung des Fleischkonsums mit Blick auf den Klimawandel auseinanderzusetzen, wird lieber direkt eine Verschwörung vermutet."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Visite am 30. Mai 2023 um 20:15 Uhr.