Polizei nimmt drei Brüder unter Terrorverdacht fest.
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Verbrechen in Berlin "Ehrenmord" oder Femizid?

Stand: 11.08.2021 11:19 Uhr

Nach dem gewaltsamen Tod einer Afghanin in Berlin wird über die Ursachen und Einordnung diskutiert. Tatverdächtig sind ihre beiden Brüder. Handelt es sich bei dem Verbrechen um einen "Ehrenmord" - oder ist der Begriff unzutreffend? Von Patrick Gensing.

Von Patrick Gensing, ARD-aktuell

Nach dem gewaltsamen Tod einer Afghanin in Berlin wird über die Ursachen und Einordnung diskutiert. Tatverdächtig sind zwei Brüder. Handelt es sich bei dem Verbrechen um einen "Ehrenmord" - oder ist der Begriff unzutreffend?

Berlins Integrationssenatorin Elke Breitenbach (Die Linke) hat in der Debatte um den Begriff "Ehrenmord" Kritik zurückgewiesen. Sie ignoriere nicht die gesellschaftlichen Hintergründe der Tat, bleibe aber dabei, eine solche Tat als Femizid zu bezeichnen, sagte Breitenbach nach einer Senatssitzung mit Blick auf den am Freitag bekannt gewordenen Mord an einer afghanischen Frau in Berlin.

Als mutmaßliche Täter wurden zwei Brüder festgenommen. Sie sollen ihre Schwester wegen deren Lebensstil getötet haben.

"Spitze des Eisbergs"

Scharfe Kritik an der Begriffswahl von Breitenbach kam unter anderem von der Frauenrechtlerin Seyran Ates: Es wäre in der Integrationspolitik schon viel gewonnen, wenn akzeptiert würde, dass es so etwas wie "Ehrenmorde" gibt, sagte die Berliner Rechtsanwältin im RBB-Inforadio. Es sei wichtig, so Ates, derartige Taten im Namen eines aus anderen Kulturen stammenden Ehrbegriffs auch so zu benennen: "Nur so können wir das Problem an der Wurzel fassen."

Auch die Organisation Terres des Femmes fordert, "Gewalt im Namen der Ehre" beim Namen zu nennen: Es handele sich bei dem Fall "nicht allgemein um Femizid, also die Tötung von Frauen, weil sie Frauen sind, sondern um eine spezielle Form, die nicht unter dem allgemeinen Begriff versteckt werden darf. Gewalt im Namen der Ehre wird in sehr streng patriarchalischen Gesellschaften ausgeübt, in denen Mädchen und Frauen grundsätzlich nicht die gleichen Rechte wie Männer haben und oft streng kontrolliert werden".

Ein "Ehrenmord" sei "die Spitze des Eisberges, darunter verbirgt sich die oft langjährige Unterdrückung und Zwangsverheiratung von Mädchen und Frauen, die zahlenmäßig in Deutschland nicht erfasst ist", so Godula Kosack, Vorstandsvorsitzende von Terres des Femmes. Die Organisation fordert dringend eine aktuelle Studie über das tatsächliche Ausmaß von Früh- und Zwangsverheiratung und "Ehrenmorde" in Deutschland sowie geeignete Präventionsmaßnahmen.

Auch Männer betroffen

Der Journalist und Islamwissenschaftler Fabian Goldmann meint ebenfalls, es handele sich bei "Ehrenmord" um keinen politischen Kampfbegriff, sondern um ein reales Phänomen. Nicht selten seien auch Männer Opfer solcher Verbrechen: "Meist handelte es sich um die unerwünschten Partner des weiblichen Opfers."

Goldmann weist darauf hin, dass es sich bei den meisten Fällen von (tödlicher) Gewalt gegen Frauen nicht um "Ehrenmorde" handele. Fachleuten zufolge gebe es in Deutschland drei bis zwölf Fälle pro Jahr. Zum Vergleich: Für 2019 erfasste das BKA 141.792 Fälle von "Partnerschaftsgewalt". 117 Frauen starben dabei.

Goldmann betont zudem, "Ehrenmorde" seien kein islamisches Phänomen, es gebe sie auch in ländlichen Regionen Indiens oder Brasiliens. In Deutschland würden solche Taten keineswegs von der Justiz weniger streng geahndet oder medial totgeschwiegen. Vielmehr seien es eher die als "Familiendrama" verharmlosten Taten, die lediglich in Lokalmedien abgebildet würden.

Die meisten Morde an Frauen seien "nicht bloß individuelle Beziehungstaten". Auch sie hätten eine kulturelle Komponente: "Toxische Rollenbilder sind der Grund, warum weltweit Frauen sterben müssen, wenn Männer sich in ihrer 'Männlichkeit' verletzt fühlen."

Patriarchale Auslegungen von Religionen

Der Liberal-Islamische Bund wendete sich hingegen gegen die Bezeichnung "Ehrenmord". Der Begriff sei höchst problematisch, bevorzugt werde "Femizid", sagte eine Vertreterin der Gemeinde in Berlin dem Evangelischen Pressedienst (epd). Femizide seien nicht nur in muslimisch geprägten Gesellschaften verbreitet, erklärte Regine Brosius als Koordinatorin der Berliner liberalen Gemeinde. Auch im christlichen Lateinamerika etwa sei dies ein weit verbreitetes Phänomen: "Dennoch wird hier üblicherweise nicht von einem speziellen Problem des Christentums gesprochen."

Patriarchale Auslegungen im Islam, Christentum und anderen Religionen trügen ihren Teil dazu bei, "dass Männer sich berechtigt sehen, über das Leben von Frauen zu entscheiden", so Brosius.

"Nichts mit Ehre zu tun"

Die Berliner Staatsanwaltschaft sprach in dem aktuellen Fall in ihrer Pressemitteilung vom Vorwurf eines "sogenannten 'Ehrenmordes'" - bewusst, wie Pressesprecher Martin Steltner auf Anfrage des RBB sagte. So beschreibe es ja einen "Unehrenmord", denn: "Das hätte ja nichts mit Ehre zu tun", so Steltner. "Ich hab mir da genau Gedanken darüber gemacht, welche Formulierung ich verwende."

Den Vorwurf, das "Wording" der mutmaßlichen Täter zu übernehmen, sehe er nicht, so Steltner. "Man muss klar bezeichnen, worum es geht - aber auch deutlich machen, dass dieser Tatvorwurf nichts mit Ehre zu tun habe", sagte er. Diese Tat nun aber mit Begriffen wie Femizid zu beschreiben, sei seiner Meinung nach nicht der richtige Weg.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete RBB Abendschau am 06. August 2021 um 19:30 Uhr.