Reproduktionszahl Die Vermessung der Pandemie
Die zwischenzeitliche Einschätzung des RKI, wonach die Corona-Reproduktionszahl auf eins gestiegen sei, hat für Kontroversen gesorgt. Doch dieser Wert allein reicht nicht, um den Verlauf einer Pandemie zu vermessen.
Die Corona-Pandemie stellt die Politik vor ein Dilemma: Sie soll auf Basis von Daten, die mit Verzögerung die Situation vor einigen Tagen ungefähr abbilden, weitreichende Entscheidungen für die Zukunft treffen. Dazu kommen regionale Unterschiede und Abwägungen, welche Maßnahmen welche anderen Schäden verursachen.
Bestimmte Maßzahlen sollen aber helfen, die Ausbreitung des Coronavirus einzuschätzen. Da die Verdoppelungszeit durch das Abflachen der Infektionskurve an Bedeutung verloren hat, ist die Reproduktionszahl in den Fokus gerückt - und sorgt nun für viele Fragen. Denn obwohl die Zahl der Neuinfektionen sinkt, schätzt das Robert Koch-Institut R wieder höher ein. Die Reproduktionszahl lag nach dessen Schätzungen zwischenzeitlich bei 1,0 - und nicht mehr 0,9. Das bedeutet, dass im Mittel jeder Infizierte eine weitere Person ansteckt. Erklärtes Ziel war es, R dauerhaft und deutlich unter eins zu senken.
Diese Information sorgte für Debatten über die Lockerung von Maßnahmen. RKI-Präsident Lothar Wieler erklärte auf Nachfrage von Journalisten allerdings, der genaue Wert liege derzeit bei 0,96 - und sei nach mathematischen Regeln aufgerundet worden. Das heißt: Schon geringe Veränderungen eines Schätzwerts können in einer Krise enormes öffentliches Aufsehen auslösen.
Statistisches Verfahren
Doch wie kommt R zustande? Die Reproduktionszahl ist "die Anzahl der Personen, die im Durchschnitt von einem Fall angesteckt werden", erklärt das RKI. Diese lasse sich nicht aus den Meldedaten ablesen, sondern nur durch statistische Verfahren zum Beispiel auf der Basis des Nowcastings schätzen. Das Nowcasting wiederum ist ein Verfahren, um die aktuelle Zahl der Neuinfektionen zu schätzen. Dieses Verfahren sei, so erläutert RKI-Präsident Wieler, bis Ende März über Wochen entwickelt worden.
Basis für die RKI-Annahmen sind Wieler zufolge Daten von Corona-Infizierten, die man im Laufe der Epidemie selbst in Deutschland erheben konnte. So rechnet das RKI beispielsweise mit einer durchschnittlichen Inkubationszeit von fünf Tagen. Auch das European Center for Disease Prevention and Control geht von einer Inkubationszeit von fünf bis sechs Tagen aus.
Auf Basis von solchen Annahmen wird dann R errechnet. Dabei lässt das RKI allerdings die jüngsten drei Tage weg, da die Daten zumeist noch nicht vollständig sind. Zur Berechnung schreibt das RKI in einem "Epidemiologischen Bulletin":
Bei einer konstanten Generationszeit von vier Tagen, ergibt sich R als Quotient der Anzahl von Neuerkrankungen in zwei aufeinander folgenden Zeitabschnitten von jeweils vier Tagen. Der so ermittelte R-Wert wird dem letzten dieser acht Tage zugeordnet, weil erst dann die gesamte Information vorhanden ist. Daher beschreibt dieser R-Wert keinen einzelnen Tag, sondern ein Intervall von vier Tagen. Das dazu gehörende Infektionsgeschehen liegt jeweils eine Inkubationszeit vor dem Erkrankungsbeginn. Hat sich die Anzahl der Neuerkrankungen im zweiten Zeitabschnitt erhöht, so liegt das R über 1. Ist die Anzahl der Neuerkrankungen in beiden Zeitabschnitten gleich groß, so liegt die Reproduktionszahl bei 1. Dies entspricht dann einem linearen Anstieg der Fallzahlen.
Nicht isoliert betrachten
Wieler betonte, das Nowcast-Verfahren sei international anerkannt und wissenschaftlich überprüfbar. Der RKI-Präsident plädiert außerdem, man dürfe nicht nur auf eine einzelne Zahl schauen. So sei die Reproduktionszahl eins allein nicht aussagekräftig und müsste beispielsweise ganz anders bewertet werden, wenn es täglich 50.000 Neuinfektionen in Deutschland gebe.
Genauso sei es nicht möglich, einzelnen Maßnahmen zur Corona-Eindämmung einem genauen Effekt zuzuordnen. Es seien immer mehrere Faktoren, die gemeinsam betrachtet werden müssten, betont Wieler mehrfach. Dazu komme, dass die R-Zahl in einigen Regionen deutlich über eins liege, in anderen deutlich darunter.
Die Schätzwerte können aber anders ausfallen, wenn andere Annahmen oder Zeiträume benutzt werden. So kommt die Technische Universität Ilmenau auf niedrigere Werte als das RKI, allerdings sind die Daten nicht aktuell und sollten, so schreibt es die Uni selbst, "vorsichtig interpretiert werden". Die Berechnung beruht auf den täglichen Meldezahlen, die das RKI bereitstelle. Für den 20. April schätzen die Forscher der TU eine Reproduktionszahl von lediglich 0,29; dieser Wert sei aber noch nicht endgültig.
Weniger Neuinfektionen als Genesene
Positiv auch: Die Zahl der Neuinfektionen ist in den vergangenen Tagen in Deutschland auf den niedrigsten Stand seit Anfang/Mitte März gefallen. Zudem sind von den mehr als 150.000 positiv getesteten Personen die meisten genesen. Wieler gab diese Zahl mit 117.400 an, 2900 mehr als am Vortag. Die Zahl der "aktiven Fälle" nimmt also ab.
Zeitraum | Infektionen | Genesene | Verstorbene | Aktive Fälle |
---|---|---|---|---|
Insgesamt | 156.337 | 117.400 | 5913 | 33.000 |
Veränderung zum Vortag | +1144 | +2900 | +163 | -1900 |
Sollte der R-Wert allerdings wieder über eins steigen, wird die Zahl der Neuinfektionen wieder wachsen. Liegt er hingegen kontinuierlich unter eins, kann die Epidemie in Deutschland wohl kontrolliert werden und möglicherweise auslaufen. RKI-Präsident Wieler schätzt, die Gesundheitsämter könnten etwa 1000 Fälle pro Tag nachverfolgen. Allerdings spielten auch hier regionale Unterschiede eine Rolle - wie auch die Sterberaten in anderen europäischen Staaten zeigen. Klar ist also: Die Vermessung der Pandemie ist komplex und funktioniert nicht mit einer einzelnen Zahl.