Nach Corona-Demo in Berlin Fake News über Zahl der Teilnehmenden
Die Polizei spricht von rund 20.000 Personen, die in Berlin gegen die Corona-Maßnahmen protestierten. Unterstützer behaupten, es seien mehr als eine Million gewesen - und präsentieren falsche Bilder.
Die Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen in Berlin hat für viel Kritik und Diskussionen gesorgt. Streit gibt es zudem über die Zahl der Teilnehmer. Zunächst zogen laut Polizei seit dem Vormittag etwa 17.000 Menschen auf einer "Versammlung der Freiheit" durch die City-Ost. Auf einer anschließenden Kundgebung unter dem Motto "Das Ende der Pandemie - Tag der Freiheit" auf der Straße des 17. Juni zählte die Polizei etwa 20.000 Demonstranten.
In den sozialen Netzwerken tauchen nun massenhaft Postings auf, in denen ohne Beleg behauptet wird, es hätten rund 1,3 Millionen Personen an den Protesten teilgenommen. Der Datenanalyst Philip Kreißel hat bislang mehr als 120 Facebook-Gruppen und Profile dokumentiert, die entsprechende Inhalte verbreiten, darunter zahlreiche Rechtsradikale und Verschwörungsideologen. In einzelnen Beiträgen wird zudem behauptet, die Polizei habe eine Teilnehmerzahl von 800.000 Personen bestätigt. Eine entsprechende Angabe der Polizei existiert allerdings nicht.
Viele dieser Profile, Seiten und Gruppen sind bereits wegen der Verbreitung von gezielten Falschinformationen aufgefallen. Dennoch können sie weiterhin Facebook nutzen, um zu desinformieren.
Zehntausendfach geteilt
Die entsprechenden Beiträge zu der Corona-Demo werden derzeit zehntausendfach geteilt, unter anderem von AfD-Politikern, wie eine Auswertung für den ARD-faktenfinder zeigt. Rechtsradikale Medien greifen die Behauptungen ebenfalls auf; diese Berichte werden ebenfalls wiederum von AfD-Funktionären verbreitet - so beispielsweise von dem Bundestagsabgeordneten Petr Bystron. Er teilt eine Meldung, der zufolge "Hunderttausende" demonstriert hätten. Sein Kommentar: "Wie lange kann sie [gemeint ist Merkel] das noch aussitzen?" Auch der AfD-Bundestagsabgeordnete Stephan Protschka twitterte von angeblich 1,3 Millionen Demonstranten.
In zahlreichen Postings wird zudem ein Vergleich zur Loveparade 2001 gezogen, als mehr als eine Million Menschen durch das Zentrum der Hauptstadt tanzten. Die ohne jeden Beleg vorgetragene Behauptung, es hätten 1,3 Millionen Menschen in Berlin demonstriert, wurde bereits gezielt auf der Demonstration selbst verbreitet. Die Teilnehmer sollten diese Zahl in ihre Netzwerke weitergeben, sagte ein Redner auf der Bühne auf der Straße des 17. Juni.
Augenzeugen widersprechen
Reporterinnen und Reporter berichten dem ARD-faktenfinder hingegen, sie halten die Angaben der Polizei für realistisch, einige gehen von einer etwas höheren Zahlen aus. Keinesfalls seien es aber deutlich mehr gewesen, geschweige denn Hunderttausende Menschen oder sogar mehr als eine Million. Bei solchen Massen breche beispielsweise der Verkehr in der gesamten City zusammen.
RBB-Reporter Olaf Sundermeyer beobachtet seit vielen Jahren Demonstrationen, er war den ganzen Tag rund um die Proteste unterwegs. Am Vormittag, so berichtet er im Gespräch mit dem ARD-faktenfinder, habe er den Demonstrationszug einmal an sich vorbeilaufen lassen und dabei überschlagen, wie viele Menschen ungefähr dabei gewesen seien. Seine Schätzung: etwa 12.000. Nach und nach hätten sich noch Menschen dem Zug angeschlossen, so seine Beobachtung. Er hält die Angaben der Polizei für realistisch.
Die Massen füllten bei der Love Parade den Großen Stern, die umliegenden Straßen und Parkanlagen.
Auf der Straße zum 17. Juni seien es dann gut 20.000 gewesen, möglicherweise etwas mehr, sagt Sundermeyer. Aber all dies sei weit entfernt gewesen von Ereignissen wie der Loveparade oder der Fan-Meile. Vielmehr war bei den Corona-Protesten lediglich die Straße des 17. Juni von der Siegessäule in Richtung Brandenburger Tor gesperrt - und selbst dieser Abschnitt war nicht ansatzweise durch Menschenmassen gefüllt. Auf zahlreichen Videos ist zu sehen, dass man durch die Kundgebung gehen konnte, zudem gab es noch große Lücken am Brandenburger Tor und in Richtung Siegessäule. Nur rund um die Bühne standen die Menschen dicht gedrängt, sonst eher verteilt. Dies ist auch in zahlreichen Videos zu sehen.
Luftbilder zeigen ebenfalls, dass die Kundgebung nicht die Straße des 17. Juni zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule füllte. Mit Tools wie "MapChecking" lassen sich zudem Schätzungen berechnen, wie viele Menschen auf eine bestimmte Fläche passen. Bezieht man dies auf den Abschnitt der Straße des 17. Juni, auf der die Kundgebung stattfand, kommt man selbst bei großzügigen Berechnungen nicht auf deutlich über 20.000 Menschen am Samstag.
Bei der Loveparade hingegen war die Straße des 17. Juni vom Brandenburger Tor bis weit hinter der Siegessäule überfüllt, ebenso die angrenzenden Straßen und Parks sowie der gesamte Große Stern selbst.
Bilder von anderen Demonstrationen
Neben solchen irreführenden Vergleichen kursieren auch Fotos, die von anderen Demonstrationen oder sogar anderen Städten stammen. Bilder aus Messenger-Nachrichten, die dem ARD-faktenfinder vorliegen, zeigen nicht die Kundgebung in Berlin, sondern eine Demonstration aus Zürich, wie eine Bilder Rückwärtssuche belegt.
Ein anderes Bild, das derzeit massenhaft verbreitet wird, stammt zwar aus Berlin, aber von einer Demonstration unter dem Motto "Black Lives Matter", die am 6. Juni am Alexanderplatz stattgefunden hatte. Auch diese Postings werden massenhaft geteilt und oft mit Manipulationsvorwürfen gegen Medien ergänzt.
Kampagne zur Desinformation
Die maßlose Übertreibungen dienen mutmaßlich mehreren Zwecken: Zum einen wird der Eindruck erweckt, die kruden Behauptungen der Organisatoren vom "Ende der Pandemie" würden von viel mehr Menschen geteilt und unterstützt, als dies tatsächlich der Fall ist. Außerdem werden Medien und Polizei beschuldigt, Lügen über die Demonstration zu verbreiten. Damit werden gemeinsame Feindbilder präsentiert - mutmaßlich, um die heterogene Bewegung aus Rechtsradikalen, Verschwörungsideologen, Impfgegnern, Esoterikern und auch durch die Pandemie verunsicherten Personen möglichst zu vereinen.