Corona-Maßnahmen Was bringen Ausgangssperren?
In der Diskussion über härtere Corona-Maßnahmen spielen Ausgangssperren eine zentrale Rolle. Solche Einschränkungen gibt es bereits in einigen Ländern, ihre Wirksamkeit ist aber unklar.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat im ARD-Morgenmagazin weitere Kontaktreduzierungen angemahnt. Dabei sei zu entscheiden, ob es vor allem um neue Regeln oder noch einmal um eine Schärfung des Bewusstseins der Menschen gehe. Es mache wenig Sinn, Schulen und Geschäfte zu schließen und das öffentliche Leben herunterzufahren, wenn die Kontakte im Privaten nicht eingeschränkt würden, sagte er.
Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans hatte sich zuletzt ebenfalls offen für Ausgangsbeschränkungen gezeigt. Auf Anfrage des ARD-faktenfinder erklärte der Sprecher der Staatskanzlei, aus Sicht von Hans dürfe "es in der Bekämpfung der Corona-Pandemie keine Denk- oder Diskussionsverbote geben", unter anderem Ausgangsbeschränkungen seien eine Option - insbesondere im Hinblick auf die Gefahr durch Virusmutationen.
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil lehnte ein generelles Ausgehverbot in den Abend- und Nachtstunden ab. Lediglich in Städten und Landkreisen mit einer Inzidenz von mehr als 200 pro 100.000 Einwohnern und Woche sei eine solche Maßnahme sinnvoll.
Verstöße gegen Corona-Auflagen
Ein Argument für die Ausgangssperren ist, dass private Zusammenkünfte am Abend und nächtliche Partys verhindert werden sollen. Am Wochenende lösten Polizisten in Berlin, Brandenburg, Hamburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen Feierlichkeiten auf. Allerdings sind solche Zusammenkünfte auch nach den bisherigen Regelungen bereits verboten. Möglicherweise lassen sich Verstöße aber leichter überwachen, wenn eine generelle Ausgangssperre verhängt wird.
Welche Rolle solche Zusammenkünfte für das Infektionsgeschehen spielen, konnte das Robert Koch-Institut (RKI) auf Anfrage nicht benennen. Eine Sprecherin verwies auf die Auswertung von Corona-Ausbrüchen. Die Zahlen umfassen aber lediglich einen Bruchteil aller Infektionen: Rund ein Sechstel können die Gesundheitsämter einem Ausbruchsgeschehen (mindestens zwei Infektionen) zuordnen.
Von diesem Sechstel aller Infektionen entfallen die meisten Fälle auf Alten- und Pflegeheime, gefolgt von privaten Haushalten. Doch auch diese Angaben sind nur mit Zurückhaltung zu bewerten, wie das RKI schreibt, da Cluster beispielsweise im öffentlichen Nahverkehr viel schwerer zu erfassen seien als in einer Familie. Das RKI vermeldet daher seit vielen Wochen ein "diffuses Infektionsgeschehen".
Keine Evaluation bei Ländern oder Bund
Ausgangssperren gibt es bislang unter anderem in Bayern, Baden-Württemberg, Brandenburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Thüringen - in Regionen mit besonders hoher Sieben-Tage-Inzidenz. Welche Effekte die regional zumeist sehr unterschiedlichen Einschränkungen gezeigt haben, ist aber unbekannt. In vielen Regionen blieb die Inzidenz hoch - trotz der Maßnahme.
Anfragen an mehrere Gesundheitsministerien zeigen, dass es bislang offenbar keine Evaluation - also eine fachgerechte Auswertung - der Maßnahmen auf Länderebene gibt. Das hessische Gesundheitsministerium teilte beispielsweise mit, Kontrolle und Ahndung obliege den Kommunen. Auch Baden-Württemberg verwies auf die Kommunen.
Das Ziel: Kontakte reduzieren
Zur Frage, auf welchen wissenschaftlichen Empfehlungen eine einschneidende Maßnahme wie die Ausgangssperre basiere, teilte das hessische Gesundheitsministerium lediglich mit, Ausgangssperren würden genutzt, um Kontakte zu reduzieren und Infektionsketten zu unterbinden.
Das Gesundheitsministerium von Baden-Württemberg verwies auf die Frage nach wissenschaftlichen Empfehlungen auf eine Änderungsverordnung, in der es heißt, Ausgangsbeschränkungen seien "geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahmen, um den Eintritt einer akuten Gesundheitsnotlage zu vermeiden und eine pandemische Trendwende zu erreichen". Sie seien "dringend notwendig", da sonst eine wirksame Eindämmung des Virus erheblich gefährdet werde.
Basis hierfür sind wiederum Empfehlungen der Wissenschaft, Kontakte zu vermeiden. Durch Ausgangsbeschränkungen sollten Situationen vermieden werden, in denen sich Menschen "aus nicht triftigen Gründen" begegnen. Allerdings konnte auch diese Verordnung von Ende November nicht die massive folgende Ausbreitung des Coronavirus verhindern.
Das Bundesgesundheitsministerium hat offenbar ebenfalls keine konkreten wissenschaftlichen Empfehlungen für Ausgangssperren vorliegen. Auf Anfrage des ARD-faktenfinder verwies eine Sprecherin auf eine Pressekonferenz von Minister Spahn am Montagmorgen, in der er allgemein auf Erfahrungen aus Bayern verwies. Eine weitere Nachfrage blieb bislang unbeantwortet.
Internationale Studie sieht geringen Effekt
International liegt zumindest eine umfangreiche Studie vor. Eine britische Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass Ausgangssperren weit weniger brächten als andere Maßnahmen. Je mehr Daten aus vielen Staaten vorlägen, so die Forschenden, umso mehr könne man die verschiedenen Einschränkungen auf ihren Erfolg hin analysieren, heißt es zu der Studie. Dennoch bleibe es eine Herausforderung, die einzelnen Effekte isoliert zu messen.
Den stärksten Effekt hatte demnach die Beschränkung von Versammlungen auf weniger als zehn Personen. Danach folgten die Schließung von Schulen sowie Universitäten und daraufhin folgend die Schließung von Geschäften mit einem hohen "Face-to-Face-Risiko" - also beispielsweise Restaurants, Bars und Fitness-Center. Ausgangssperren ("Stay-at-home order") hatten den geringsten Effekt der analysierten Maßnahmen gezeigt.
Frankreich sieht Ausgangssperre als Erfolg
In Spanien und anderen Ländern hatte es im Frühjahr strikte Beschränkungen gegeben, einen harten Lockdown also - mit Ausgangsbeschränkungen, die rund um die Uhr galten. Im Herbst setzen die meisten Staaten auf Ausgangssperren ab dem Abend. Dies macht eine Analyse des Effekts noch schwieriger. Zudem fürchteten Kritiker beispielsweise in Frankreich, dass eine frühe Ausgangssperre kontraproduktiv sei, weil dann mehr Menschen tagsüber einkaufen gingen.
Frankreichs Premier Jean Castex hatte am 14. Januar angekündigt, die Sperrstunde solle im ganzen Land von 20 auf 18 Uhr vorgezogen werden. Daten aus Regionen, in denen seit dem 2. Januar eine solche frühere Sperrstunde gilt, zeigten, dass die Infektionszahlen dort langsamer anstiegen, so Castex. Kritiker meinten allerdings, es spielten mutmaßlich verschiedene Faktoren eine Rolle und es sei zu früh, um die Maßnahme fundiert beurteilen zu können.
Maßnahme verhältnismäßig?
Klar ist: Eine Ausgangssperre hat einen gewissen Effekt auf das Infektionsgeschehen, das streiten auch Kritiker nicht ab. Umstritten bleibt aber, wie groß diese Wirkung ist, und ob sie dementsprechend verhältnismäßig sein kann. Diese Verhältnismäßigkeit, ein Grundprinzip der Rechtsstaatlichkeit, sahen zumindest verschiedene Bürgerinnen und Bürger nicht gegeben und zogen daher vor Gerichte, die meisten scheiterten aber.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof beispielsweise lehnte einen Eilantrag gegen die bayernweite Ausgangssperre von 21 bis 5 Uhr ab. Das Gericht folgte dabei laut BR weitgehend der Argumentation der Staatsregierung. Deren Erwartung, durch die Anti-Corona-Maßnahme "vor allem besonders infektionsgefährdende gesellige Zusammenkünfte zu unterbinden, ist insbesondere im Hinblick auf den erheblichen Beitrag privater Feiern zum Infektionsgeschehen in den vergangenen Monaten plausibel", so die Richter.
Der Antragssteller hatte erklärt, dass er wegen seiner Arbeit nicht tagsüber für längere Zeit an die frische Luft gehen könne. Durch die Ausgangssperre würden die Grundrechte vieler Menschen irreversibel und erheblich beeinträchtigt, es handle sich um eine physische und psychische Belastung. Das Gericht meinte dennoch: Dass durch die Ausgangssperre "auch an sich unbedenkliche Tätigkeiten, wie zum Beispiel nächtliches Sporttreiben alleine, untersagt werden, ändert nichts an der grundsätzlichen Eignung der Ausgangsbeschränkungen". Gegenüber den bestehenden Gefahren für Leib und Leben müssten "die Interessen der von den Ausgangsbeschränkungen Betroffenen derzeit zurücktreten".
"Erhebliche Zweifel"
In Nordrhein-Westfalen bekam ein Bürger aus dem Kreis Euskirchen am Verwaltungsgericht Aachen hingegen recht. Das Gericht formulierte "erhebliche Zweifel" an der Verhältnismäßigkeit der Ausgangsbeschränkung. Die Allgemeinverfügung ziele offenkundig darauf ab, das Treffen mehrerer Personen im privaten Raum aus Infektionsschutzgründen nach Möglichkeit zu unterbinden. Dies könne aber bereits erreicht werden durch die geregelten Beschränkungen dieser Treffen. Einer Ausgangssperre bedürfe es daneben nicht.
Mittlerweile ist die Zahl der Neuinfektionen bundesweit zudem gesunken. Minister Spahn spricht von ersten Erfolgen des bisherigen Lockdowns, so dass die unbedingte Notwendigkeit von flächendeckenden Ausgangssperren möglicherweise nur schwer zu begründen sein könnte.