Verkürztes Zitat Hannah Arendt und der Gehorsam
Gerne wird die Publizistin Hannah Arendt mit dem Satz zitiert, niemand habe das Recht zu gehorchen. Doch bei dieser Aussage fehlen nicht nur zwei Wörter, sondern es fehlt auch der Kontext.
"Niemand hat das Recht zu gehorchen" - dieser Ausspruch findet sich nicht nur auf T-Shirts oder zuletzt Plakaten bei "Querdenker"-Demonstrationen, sondern auch auf Souvenirs des Deutschen Historischen Museums (DHM) sowie Denkmälern. Zugeschrieben wird das Zitat Hannah Arendt. Die berühmte Publizistin und Analystin hat bedeutsame Beiträge zur politischen Philosophie geliefert - insbesondere im Kontext von totalitärer Herrschaft.
Arendt wurde am 14. Oktober 1906 in Linden geboren, im Dezember 1975 verstarb sie in New York. Wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgt, verließ sie Deutschland in der NS-Zeit und ging zunächst nach Paris, später in die USA. Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus reiste sie nach Europa und Israel und berichtete über die Folgen des Holocaust und des Kriegs.
Prozess gegen Eichmann
Besonders bekannt sind ihre Arbeiten zum Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem, über den sie berichtet hatte. Im Jahr 1964 sprach der Publizist Joachim Fest in einem NDR-Interview mit Arendt über Eichmann.
Arendt attestierte dem Kriegsverbrecher eine "empörende Dummheit". Er habe sich auf den Philosophen Immanuel Kant berufen, führte Arendt aus, um sich von seiner persönlichen Verantwortung und Schuld für den Holocaust zu entledigen. Arendt hielt diese Bezugnahme auf Kant für absolut unzulässig und führte dazu aus:
Kants ganze Moral läuft doch darauf hinaus, dass jeder Mensch bei jeder Handlung sich selbst überlegen muss, ob die Maxime seines Handelns zum allgemeinen Gesetz werden kann. [...] Es ist ja gerade sozusagen das extrem Umgekehrte des Gehorsams! Jeder ist Gesetzgeber. Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen bei Kant.
Diese Ausführungen über das Denken von Kant werden heutzutage aber Arendt selbst zugeschrieben - und das zumeist ohne Kontext. Dabei bezog sich Arendt explizit auf die Rolle von Eichmann in einem verbrecherischen System, der totalitären NS-Diktatur - und sprach nicht allgemein über Gehorsam und Pflichten in demokratischen Staaten.
Vorwürfe gegen das DHM
Das Blog "Falsche Zitate" hatte diese Verkürzung bereits 2017 thematisiert. Das Deutsche Historische Museum (DHM) hält es dennoch für zulässig, das Zitat Arendt zuzuschreiben. Als Souvenir zu einer Ausstellung über Arendt bot das Museum Taschen und Plakate mit dem Ausspruch an, was auf Twitter als Kitsch kritisiert wurde. Auf Anfrage des ARD-faktenfinder verwies eine Sprecherin des Museums auf das Gespräch zwischen Arendt und Fest als Ursprung:
Es wendet sich gegen Eichmanns Berufung auf den Pflichtbegriff bei Kant. Es gibt kein Recht, Gesetz oder Befehl, das einer Person die Verantwortung für die eigenen Taten abnimmt. Es gibt in dem Sinne kein Recht auf blinden Gehorsam. Im Gespräch wird deutlich, dass Hannah Arendt diese Ansicht Kants teilt, weshalb es legitim ist, ihr diese Aussage in ihrer Bedeutung zuzuschreiben.
Tatsächlich spricht Arendt im weiteren Verlauf des Interviews davon, was "spezifisch deutsch" sei - und dabei erwähnte sie als Beispiel "diese geradezu verrückte Idealisierung des Gehorsams".
Das Deutsche Historische Museum zeigt eine Ausstellung über Hannah Arendt.
Arendt und der Gehorsam
Ob Arendt aber tatsächlich der Überzeugung war, dass es pauschal ein Recht gebe - egal unter welchen Umständen - nicht zu gehorchen, lässt sich aus dem Gespräch nicht belegen. Rainer Forst, Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, sagte dem ARD-faktenfinder, er halte es nicht für zulässig, das Zitat einfach Arendt zuzuschreiben. Eine ähnliche Aussage von ihr sei ihm auch nicht bekannt.
Die Historikerin Annette Vowinckel promovierte über das Thema "Geschichtsbegriff und Historisches Denken bei Hannah Arendt". Sie hält die Angelegenheit nicht für eindeutig zu beantworten und verweist auf einen Text, in dem sich Arendt ausführlich zur Frage des Gehorsams äußerte. Dieser erschien erstmals 1964 in der Zeitschrift "The Listener". Darin argumentierte Arendt, dass niemand einen Befehl ausführen sollte, von dem er oder sie wisse, dass dieser unrecht oder gar kriminell ist. Daraus abzuleiten, dass Ungehorsam generell zu empfehlen sei, sei aber nicht zulässig, meint Vowinckel. Denn Arendt habe "sich an anderen Stellen eher dahingehend geäußert, dass ein Gemeinwesen nur funktionieren kann, wenn sich die Bürger an die Gesetze halten - zum Beispiel in einem Text über 'Civil Disobedience'".
Kontext entscheidend
Vowinckel teilt die Einschätzung, dass sich Arendt in dem Gespräch mit Fest dem Denken von Kant zustimmt - "jedenfalls in dem Kontext, in dem sie den Satz paraphrasierte". Wenn man die Worte "bei Kant" weglasse, werde "deshalb aus meiner Sicht auch nicht der Sinn entstellt". Entscheidend sei, in welchem Kontext das Zitat verwendet werde.