Europawahl 2024
Reformen Wie wird die EU fit für die Zukunft?
Der Reformbedarf in der EU ist enorm - und dürfte noch größer werden, sollte sie sich Richtung Westbalkan erweitern. Wo ist der Reformstau am größten und welche Vorschläge gibt es?
Für die Skeptiker ist es ein Horrorszenario: Im Jahr 2030 treten sechs Länder des Westbalkans plus Moldawien plus die Ukraine der EU bei. Sie wächst damit auf 35 Mitglieder an - und alles andere bleibt beim Alten, vom Einstimmigkeitsprinzip in wichtigen außenpolitischen Fragen bis hin zur Agrarpolitik.
Dass es so nicht kommen wird, ist allen klar. Zumal längst nicht jeder das vom amtierenden Ratsvorsitzenden Charles Michel kürzlich ins Spiel gebrachte Beitrittsdatum 2030 für richtig hält.
Aber das Szenario beschreibt, welcher Veränderungsdruck für die Europäische Union besteht, wenn sie tatsächlich neue Mitglieder aufnehmen will. Und die Ukraine hat schon mehrfach wissen lassen, dass sie gern auch früher als 2030 beitreten würde. "Wir brauchen für unsere Hausaufgaben keine zwei Jahre", sagte etwa Regierungschef Denis Schmyhal.
Welches Interesse die EU an einer Erweiterung hat
Dass die EU ein geostrategisches Interesse an der Erweiterung hat, gilt als Konsens. Es geht darum, die bislang ungebundenen Länder näher an die Union zu holen - manche sprechen vom "Schließen grauer Zonen" -, bevor sie stärker in den Einfluss des Kremls oder anderer Mächte wie zum Beispiel China geraten. Der Europäische Rat spricht selbst von einem "geostrategischem Investment" der Europäer.
Aber schon jetzt tut sie sich gelegentlich schwer mit der Entscheidungsfindung, wenn sie ans Einstimmigkeitsprinzip gebunden ist. Spektakulär konnte man das am Veto Viktor Orbans gegen Beitrittsgespräche mit der Ukraine im vergangenen Dezember sehen, als nur eine Kaffeepause über die Hürde half.
An dieses Einstimmigkeitsprinzip müsste man ran, da sind sich die meisten einig. Im Herbst vergangenen Jahres legten Deutschland und Frankreich gemeinsame Vorschläge vor, in denen unter anderem geraten wurde, das Einstimmigkeitsprinzip nur noch für wenige Ausnahmefälle in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gelten zu lassen und statt dessen öfter mit der schon jetzt häufig angewendeten "qualifizierten Mehrheit" zu arbeiten.
Zur Zeit ist diese qualifizierte Mehrheit erreicht, wenn mindestens 55 Prozent der Mitgliedsstaaten zustimmen und diese Länder auf mindestens 65 Prozent der Bevölkerung kommen. Konkret heißt das: Es braucht 15 der 27 Mitgliedsstaaten, und darin 293 Millionen Einwohner. Dem deutsch-französischen Vorschlag zufolge sollen beide Quoten auf 60 Prozent festgelegt werden, das heißt: 17 Länder, aber nur noch rund 271 Millionen Einwohner.
Muss es bei 27 Kommissaren bleiben?
Diskutiert wird auch immer wieder, die Zahl der EU-Kommissare zu verringern. Derzeit hat jedes der 27 Mitgliedsländer ein Recht auf einen der Top-Jobs im Kabinett der Kommission. Auch die Zahl der Abgeordneten im Europäischen Parlament und die Verteilung auf die Nationen wird diskutiert werden müssen.
Bis zum Brexit im Januar 2020 saßen 751 Parlamentarierinnen und Parlamentarier in den Plenarsälen in Brüssel und Straßburg, danach waren es 705, und mit der Wahl 2024 werden es 720 sein. Entweder man erweitert das Parlament oder man verteilt die Sitze neu auf die Mitgliedsländer - was aber einen Verzicht auf Seiten der bisherigen 27 Mitgliedsländer bedeuten würde.
Die Idee eines schrittweisen Beitritts
Umstritten ist der Gedanke eines schrittweisen Beitritts, in dem die neuen Mitglieder zunächst in bestimmten Politikbereichen mitwirken oder bereits Zugang zum Binnenmarkt erhalten, bevor sie Vollmitglieder der EU werden. Damit ließen sich ein paar schwierige Konflikte zunächst ausklammern, andererseits wäre es für neue Mitglieder dann eben auch nur eine Art "partielle Mitgliedschaft".
Ein solches "Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten" hat jedoch Kritiker auf beiden Seiten - bei den Mitgliedern ebenso wie bei den Beitrittskandidaten.
Und dann geht es ums Geld
Besonders heikel ist die Frage der Geldverteilung. In einem internen Vermerk aus dem Büro des EU-Rats im vergangenen Herbst heißt es, die Erweiterung bedeute für die jetzigen Mitglieder, dass sie mehr zahlen und weniger bekommen würden.
Insbesondere ein Beitritt der Ukraine mit ihren 44 Millionen Einwohnern und der dann größten Landfläche in der Union würde die Gewichte und Zuteilungen verschieben. In Medienberichten ist in diesem Zusammenhang von 110 bis 136 Milliarden Euro für einen Siebenjahres-Zeitraum die Rede, das wäre etwa 0,1 Prozent des Bruttosozialprodukts eines Jahres in der EU.
Die ukrainische Regierung hält dagegen, dass der Beitritt für die EU viel mehr einbringe, als er sie kosten werde. "Unser Markt, unsere Verteidigungskräfte, die ukrainischen Rohstoffe und Bodenschätze wie auch andere Bereiche könnten viel in Fragen der Sicherheit und des wirtschaftlichen Nutzens beisteuern", sagt Ministerpräsident Denys Schmyhal. Immerhin: Nach ihrem Beitritt 2004 konnten die damals neuen EU-Mitglieder ihren Außenhandel mehr als verdreifachen - dank Integration in den Binnenmarkt.
Manche Branchen sind schon jetzt nervös
Wie nervös manche Branchen auf einen Beitritt der Ukraine schauen, war zuletzt an der polnisch-ukrainischen Grenze, aber auch an anderen Orten in ganz Europa zu sehen und nicht zuletzt bei den Bauern-Demonstrationen in Brüssel lautstark zu hören.
Unter anderem befürchteten europäische Bauern, von billigen und nicht nach EU-Standards hergestellten ukrainischen Waren erdrückt zu werden, nachdem die EU die Zölle für den Import landwirtschaftlicher Produkte aus der Ukraine ausgesetzt hatte, um dem Land im Krieg wirtschaftlich zu helfen.
Kein gutes Wahlkampfthema
Eine Erweiterungsdiskussion brächte zwangläufig auch eine Verteilungsdiskussion, bei der man den bisherigen Empfängern vermutlich sagen müsste, dass sie auf kurz oder lang weniger bekommen.
Das allerdings ist kein gutes Thema für einen Wahlkampf - und auch deshalb wird diese Diskussion frühestens nach den Europawahlen wieder Fahrt aufnehmen.