Europa-Wahlkampf bei Briten Nackt, provokant - oder gar nicht
Großbritannien will aus der EU austreten. Da das aber bislang nicht gelungen ist, nehmen die Briten nun wieder an der Europawahl teil. Wie sieht unter den Umständen der Wahlkampf aus?
Die Stadt Exeter in Devon hat eine der schönsten Kathedralen Englands. Und am Ufer der Exe, vor dem historischen Zollhaus, kann man herrlich entspannen - wenn die Sonne so wie an diesem Tag scheint. Das kommt auch Rachel Johnson zugute - der Spitzenkandidatin für diese Europawahl der neuen ChangeUK-Partei im englischen Südwesten. "Heute sind wir in Exeter, gestern waren wir in Bath", erzählt sie.
Rachel Johnson - die Schwester von Boris Johnson - ist vor allem in den Remain-Hochburgen auf Wahlkampf-Tour.
Sie versuche, sich auf die Orte zu konzentrieren, "in denen das Potenzial der Wähler, die für den Verbleib in der EU sind, besonders groß ist". Aber sie sei auch schon in Plymouth gewesen, eine Labour-Brexit-Hochburg: "Das war eine harte Veranstaltung", erinnert sich Johnson. In Exeter dagegen hat sie leichtes Spiel. Auf dem Rasen vor der Kathedrale trifft sie die beiden Studentinnen Ines und Leyla. Die beiden Frauen durften beim EU-Referendum 2016 noch nicht mit abstimmen. Jetzt sind sie 18 und wollen, dass Großbritannien in der EU bleibt.
Im Fernsehen nackig gemacht
ChangeUK wurde erst vor ein paar Wochen gegründet, von ehemaligen Unterhausabgeordneten der Konservativen und der Labour Party, die die Politik ihrer Parteiführungen nicht mehr mittragen und das Volk noch einmal über die EU-Mitgliedschaft abstimmen lassen wollen.
Spitzenkandidatin Johnson ist eigentlich Journalistin und ziemlich prominent. Auch, weil sie mal bei der Celebrity Big Brother Show mitgemacht und sich jetzt im Fernsehen ausgezogen hat, weil der Brexit Großbritannien nackt mache. Zudem ist sie die Schwester des Erz-Brexiteers, des ehemaligen Außenministers und May-Rivalen Boris Johnson, der 2016 die Kampagne für den Austritt aus der EU angeführt hatte. "Boris glaubt, er trete für die richtige Sache ein, und ich glaube, dass ich richtig liege", sagt sie. Die Johnson-Familie habe immer jedem den Raum gegeben, das zu tun, was er für richtig halte. "Ich hätte nur ein Problem, wenn er Nigel Farage unterstützte, wenn er mit ihm eine Koalition einginge - das wäre ein Fehler."
Rachel Johnson und Nigel Farage diskutieren im Februar 2019 auf einer Konferenz miteinander.
Farage gewinnt viel Zustimmung
Nigel Farage, der langjährige EU-Parlamentarier und Brexit-Vorkämpfer, ist wieder da: Vor fünf Jahren machte er die UKIP zur stärksten britischen Partei im EU-Parlament. Bei dieser Wahl tritt er mit seiner neuen Partei an, der Brexit-Party, weil die alte UKIP sogar ihm zu rechtsextrem geworden ist. Und wieder liegt Farage in den Umfragen vorn, weil er die Bürger einsammelt, die enttäuscht sind, dass Großbritannien immer noch in der Europäischen Union ist.
Er steht vor den begeisterten Brexit-Anhängerin in einem Saal in Lincoln: Theresa May sei nicht etwa die schlechteste Premierministerin seit Anthony Eden, sie sei die schlechteste, scheinheiligste und verlogenste Premierministerin in der gesamten Geschichte dieses Landes, ruft Farage. Jackie ist eine seiner Unterstützerinnen. Für sie ist Farage nach eigenen Angaben der einzige Politiker, für den man stimmen könne. Die Zukunft sei der Brexit - mit Farage am Ruder.
Konservative meiden Wahlkampf
Während Farage die Säle rockt, machen die über den Brexit völlig zerstrittenen Konservativen lieber gar keinen Wahlkampf. Sie sind voll damit beschäftigt, am Stuhl ihrer Vorsitzenden und Premierministerin zu sägen. Eine Auftaktveranstaltung der Tories gab es nicht, der Entwurf eines Flugblatts wurde nach Protesten aus der Partei wieder eingestampft.
Nigel Farage schafft es mit seiner provokanten Art, viele Briten von sich zu überzeugen.
Auch der Wahlkampf der Labour-Party kommt nicht in Gang. Oppositionsführer Jeremy Corbyn sprach zum Auftakt in der Bibliothek der Universität von Kent vor ein paar ausgewählten Gästen: "Es ist im Interesse des Landes, den Brexit in Ordnung zu bringen, in der einen oder anderen Weise." Doch könne seine Partei ein schlechtes von der Regierung ausgehandeltes Abkommen oder einen Austritt ohne Abkommen nicht akzeptieren.
Unklarheit mögen Wähler nicht
Brexit auf die eine oder andere Weise, vielleicht eine neue Volksabstimmung - damit holt Labour niemanden von den Stühlen. Und dabei hätte diese Wahl doch eigentlich zum Selbstgänger für die größte Oppositionspartei werden müssen, angesichts des desaströsen Zustands der konservativen Regierungspartei. Stattdessen sammelt Nigel Farage die Protestwähler ein, bei dieser Wahl für ein Parlament, in dem er eigentlich keinen Briten mehr sehen möchte.
Das Leben sei eben voll von Ironie, sagt Farage im ARD-Interview. Seine Brexit-Partei ist in den Umfragen auf Platz eins, und trotzdem hat Farage dieses Land noch lange nicht erobert. Denn auf der anderen Seite des politischen Spektrums zeigen die EU-Anhänger ihre Muskeln, die sich allerdings auf mehrere Parteien verteilen: Liberaldemokraten und Grüne haben schon bei den Kommunalwahlen vor zwei Wochen stark zugelegt.
Die Liberaldemokraten sind sogar so selbstbewusst, dass sie einen der von den Brexiters so verhassten EU-Hierarchen eingeladen haben: den Brexit-Verhandlungsführer des Europaparlaments, den belgischen Liberalen Guy Verhofstadt. Warum? Um sich gemeinsam dem hässlichen Populismus entgegenzustemmen, sagt LibDem-Chef Vince Cable.
Wirklich letzte Europawahl für die Briten?
Vielleicht nehmen die Briten ja auch gar nicht zum letzten Wahl an einer Europawahl teil. Denn zählt man alle Parteien in den Umfragen zusammen, die sich für ein neues Referendum und die Mitgliedschaft des Landes in der EU einsetzen, ist dieses Lager mit einem guten Drittel der Stimmen in etwa so groß wie die Brexit-Partei und die alte UKIP.
Boris Johnsons Schwester Rachel macht dieser Europa-Wahlkampf jedenfalls richtig Spaß. Sie freut sich auf dem Rasen vor der Kathedrale, dass auch der 78 Jahre alte Rentner Stewart für ChangeUK und damit gegen den Brexit stimmen will. Seine Begründung: Die Europäische Union habe zwar aus krummen Bananen gerade Bananen gemacht, aber vor allem habe sie doch nach zwei Weltkriegen für Frieden gesorgt.