Milde Gaben: Premier Boris Johnson liefert am Morgen Milch an Einwohner in Guiseley aus.
Analyse

Wahl in Großbritannien Der Brexit als Weihnachtsgeschenk?

Stand: 12.12.2019 04:12 Uhr

Fast alle Umfragen sprechen dafür, dass Johnson aus der heutigen Wahl als Sieger hervorgeht - auch dank seiner Parole "Get Brexit Done". Zu verlockend ist sein Versprechen, die Hängepartie zu beenden. Doch was käme nach dem EU-Austritt?

Boris Johnson hat den Briten den Brexit als Weihnachtsgeschenk versprochen. Gehen die Konservativen mit ihm heute als Sieger aus den Wahlen hervor, will der Premierminister seinen Deal noch in der nächsten Woche durchs Parlament bringen.

Denn dann hätte Johnson im Unterhaus endlich seine lang ersehnte Mehrheit. Die ewige Hängepartei wäre vorbei. Johnsons griffiger Slogan, "Get Brexit Done!" suggeriert eine einfache Lösung, einen leichten Ausweg aus dem Dilemma der letzten Jahre. Mit ihm als Wahlsieger sei das leidige Thema nach der Wahl dann ganz schnell erledigt.

Er verspricht damit etwas, was bei den von ihrer Politik erschöpften Briten ankommt. Am gestrigen letzten Wahlkampftag präsentierten die Konservativen dementsprechend ein Video mit einem Bulldozer, der mit lautem Getöse durch eine Styroporwand bricht, die griffige Parole "Get Brexit Done!" prangt dick und fett vorne auf der Schaufel. Mauer kaputt, Thema erledigt.

Folgen des Brexit werden nicht angesprochen

Eine verlockende Aussicht, denn wer will das nicht? Die Realität aber sieht anders aus. Tatsächlich ist dieses Versprechen eine grobe Verzerrung der Wirklichkeit. Bringt Johnson seinen Deal noch in diesem Jahr durchs Parlament, beginnt damit erst der lange und steinige Weg in die Ungewissheit. Wirtschaftsexperten gehen davon aus, dass es viele Jahre dauern wird, bis die Briten einen neuen Handelsvertrag mit der EU abschließen können.

Darüber wurde in diesem Wahlkampf aber kaum gesprochen. Getreu der typisch britischen Unart des "muddling through", des Durchwurschtelns, erklärte Johnson immer wieder, dass man "das Ding" jetzt hinter sich bringen müsse. Dann werde man weitersehen.

Eine Taktik, die er in diesem Wahlkampf aus gutem Grund anwandte. Denn darüber, was der Brexit den Briten bringen werde, sprechen die Brexiteers ganz generell lieber nicht mehr. Wo noch 2016 blühende Landschaften versprochen wurden, kommt der Brexit jetzt nur noch als lästige Nebensache am Rande vor.

Die negativen Folgen für die Wirtschaft werden nicht mehr bestritten, sie sollen abgepuffert werden. Woher das Geld nach einem EU-Austritt kommen soll, wenn  aus den Staatskassen zunächst die fehlenden EU Subventionen ausgeglichen werden müssen, wird nicht erklärt.

Der Labour-Chef versprach das Blaue vom Himmel

Die heutige Wahl in Großbritannien ist eine der wichtigsten Richtungsentscheidungen seit Generationen auf der Insel. Umso absurder, dass der Brexit als eigentliches Thema im Wahlkampf immer nur indirekt vorkam.

Denn die Opposition folgte hier genau demselben Muster. Der Labour-Chef Jeremy Corbyn versprach den Wählern das Blaue vom Himmel. Freies Internet für alle, echten Sozialismus, die Bahn und die Post sollen wieder verstaatlicht, das marode Gesundheitssystem mit massiven Investitionen wieder auf Vordermann gebracht werden.

Während Johnson vollmundig erklärte, den Brexit zu erledigen, versuchte Corbyn, ihn zu ignorieren. Er werde den Briten ein zweites Referendum anbieten, und sich dabei neutral verhalten.

Eine Strategie, die die Labour Wahlkämpfer an der Basis nur schwer verkaufen konnten und die vor allem in den alten Labour Hochburgen im Norden Englands die Wähler in Scharen ins konservative Lager treiben dürfte. Denn hier hatten sie überwiegend für den Brexit gestimmt. Eine Mehrheit für die Labour Partei wird von Wahlforschern deshalb derzeit ausgeschlossen.

Liberaldemokraten sind chancenlos

Und so ist die wichtigste Wahl seit Generationen in Großbritannien gleichzeitig auch die absurdeste. Denn über das Thema, um das es eigentlich geht, wird nur verdeckt abgestimmt. Laut den letzten Umfragen unter jenen 50 Prozent der Briten, die gegen den EU-Austritt sind, bietet keine der beiden großen Partei eine echte Alternative. Und die Liberaldemokraten, die als einzige klar gegen den Austritt sind, haben mit dem britischen Mehrheitswahlrecht keine Chance.

Die schwache Hoffnung der Brexit-Gegner liegt damit in einem Parlament ohne Mehrheitsverhältnisse. Keine andere Fraktion ist bereit, Johnson zu unterstützen. Damit würde bereits eine minimale Mehrheit der Oppositionsparteien einen Regierungswechsel ermöglichen. Und eine Minderheitsregierung unter vorübergehender Führung der Labour Partei dürfte so lange halten, bis das gemeinsame Ziel der Opposition durchgesetzt wäre. Ein zweites Referendum, dessen Ausgang aber wiederum auch nicht absehbar ist.

Ein Brexit zu Neujahr?

Kein Wunder, dass selbst viele "Remainer" in dieser Situation heimlich mit dem Gedanken spielen, wider besseres Wissen doch Johnson zu wählen. "Get Brexit done!", den Brexit erledigen. Es klingt einfach so gut. So harmonisch und leicht. Und in zwei Wochen ist Weihnachten.

Die letzten Umfragen jedenfalls sagen Johnson einen knappen Wahlsieg voraus. Dann hätten die Briten ihren Brexit zum neuen Jahr. Tatsächlich aber hätte die lange Reise ins Ungewisse damit erst begonnen.

Jens-Peter Marquardt, Jens-Peter Marquardt, ARD London, 12.12.2019 11:40 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Weltspiegel extra am 11. Dezember 2019 um 22:45 Uhr.