Offensive in Nordsyrien Wer kann, der flieht
Wegen der türkischen Offensive in Syrien drohen die USA mit Sanktionen. Für Spannungen sorgt der Beschuss von US-Truppen - für die das Pentagon die Türkei verantwortlich macht.
Und plötzlich wurde ihm schwarz vor Augen. Jenkin Murad liegt in einem Krankenhaus in der Stadt Qamischli, seine Verletzungen haben die Ärzte versorgt. Einem Reporter berichtet der 35-Jährige, er habe keine Ahnung, ob es eine Mörsergranate oder ein Artilleriegeschoss war. "Zuerst wurden die Nachbarn getroffen. Ich bin zu ihnen rübergegangen, und dann traf ein Geschoss plötzlich mich." Was dann mit ihm passiert sei, wisse er nicht. "Sie haben nun einen Granatsplitter aus meinem Bauch genommen. Ein anderer Splitter hat die Arterie am Fuß zerschnitten."
Menschen stehen am Ort einer Explosion in Qamischli.
Die Türkei sagt, sie greife ausschließlich "Terroristen" an, Kämpfer der kurdischen Miliz YPG. Joan Mahdi widerspricht. Der 34-Jährige hat gerade seinen verletzten Bruder ins Krankenhaus gebracht. "Der Bombenangriff heute sollte nur Zivilisten treffen", glaubt er. "Sie hatten nicht die YPG im Visier. An dem Ort, den sie angriffen, waren keine Mitglieder der YPG, nur Zivilisten."
Viele Krankenhausmitarbeiter sind geflohen
Die medizinische Versorgung der Menschen in Nordsyrien wird immer schwieriger. So teilte Ärzte ohne Grenzen gestern mit, dass ein von der Organisation unterstütztes Krankenhaus in Tel Abyad geschlossen werden musste, weil die meisten Mitarbeiter auf der Flucht vor den türkischen Angriffen die Stadt verlassen hatten.
In der Klinik im Ort Tel Tamr arbeiten Ärzte und Pfleger bereits an der Grenze. "Es gibt viele verletzte Zivilisten", berichtet ein Arzt einer Nachrichtenagentur. "Bis jetzt sind es 89, darunter auch vier Kinder und 15 Frauen." Die anderen seien alte Menschen, die den umkämpften Ort Ras al-Ain nicht hätten verlassen können. Viele Autos seien von Flugzeugen angegriffen worden.
Wie lange Medikamente und medizinisches Gerät noch reichen werden, kann der Arzt nicht sagen. "Wir bitten medizinische Einrichtungen in der ganzen Welt, uns Nothilfe zu schicken - vor allem unserem Krankenhaus und allen Kliniken in Nordostsyrien." Es gebe viele Verletzte, und die Mittel seien begrenzt.
Hunderttausende verlassen ihre Orte
Nach Angaben der Vereinten Nationen ist jetzt auch die Trinkwasserversorgung der Region in Gefahr. Zwei Mal sei während der vergangenen Tage die Stromleitung zum Wasserwerk Allouk in Ras al-Ain getroffen worden, nun liegt das Werk lahm. Nach dem ersten Angriff konnten Techniker sie flicken, doch dann wurde die Leitung ein weiteres Mal gekappt. Von dem Ausfall sind schätzungsweise 400.000 Menschen in der Stadt Hassaka und umliegenden Dörfer betroffen.
Unterdessen wurde damit begonnen, das Flüchtlingslager Mabroka zu evakuieren, das unweit von Ras al-Ain liegt. Seine rund 5000 Bewohner sollen andernorts in Sicherheit gebracht werden. Auch das Flüchtlingslager Ein Issa in der Nähe von Tel Abyad steht kurz vor der Räumung.
Gestern Abend hatten die Vereinten Nationen mitgeteilt, dass mittlerweile mindestens 100.000 Menschen in Nordsyrien auf der Flucht vor der Gewalt sind. Die Zahl der Fliehenden steige weiter. Die Städte Ras al-Ain und Tel Abyad und umliegende Dörfer seien mittlerweile weitgehend verlassen.