Ernennung der EU-Kommission Von der Leyen und die Quadratur des Kreises
Ein rechter Vize, ein neues Verteidigungsressort, verpasste Geschlechterparität: Das Team, das EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen für ihre zweite Amtszeit ernannt hat, sorgt für einige Überraschungen.
Bei der Besetzung der 27 europäischen Top-Jobs musste Ursula von der Leyen Länderinteressen, Parteizugehörigkeiten und Geschlecht der Kandidatinnen und Kandidaten berücksichtigen - eine Aufgabe, die der Quadratur des Kreises gleichkommt.
Trotzdem hat die Kommissionspräsidentin sie weitgehend gemeistert. Dabei haben sich die Arbeitsschwerpunkte ihres künftigen Teams deutlich verschoben. Mit ihrer amtierenden Kommission stellte von der Leyen anfangs den Kampf gegen den Klimawandel in den Vordergrund - bis mit der Corona-Pandemie und Russlands Angriffskrieg in der Ukraine neue, gewaltige Herausforderungen dazukamen.
Bei der Zusammenstellung ihres künftigen Kollegiums hatte von der Leyen deshalb nach eigenen Worten stärker als 2019 Europas Sicherheit und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie im Blick.
Umstrittener Stellvertreter aus Italien
Um diese Aufgaben anzugehen, benennt von der Leyen sechs geschäftsführende Stellvertreterinnen und Stellvertreter. So ist die spanische Sozialdemokratin Teresa Ribera für nachhaltigen Wandel und Wettbewerbspolitik verantwortlich, der französische Liberale Stéphane Sejourné für Industriepolitik. Kaja Kallas wird EU-Außenbeauftragte.
Zwei Vizepräsidentenposten gehen überraschenderweise an kleinere Länder: Finnland und Rumänien. Dabei ist die Finnin Henna Virkkunen für den wichtigen Bereich Digitales zuständig. Dass von der Leyen auch Raffaele Fitto von den ultrarechten Fratelli d’Italia zu einem ihrer geschäftsführenden Stellvertreter macht, stößt bei Grünen und Sozialdemokraten auf Kritik.
Fittos Parteikollegen stimmten gegen von der Leyen
Fitto soll für Regionalförderung und Reformen zuständig sein. Er verwaltet damit den Kohäsionsfonds, aus dem Investitionen getätigt werden, um Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten auszugleichen und der rund ein Drittel des EU-Haushalts umfasst.
Die SPD fragt, warum von der Leyen als Vizepräsident den Politiker einer Parteienfamilie auswählt, die im EU-Parlament gegen sie gestimmt hat. Die christdemokratische EVP hält dagegen, dass Italien als drittwichtigste Volkswirtschaft in der EU mit einer herausgehobenen Funktion bedacht werden müsse.
Neues Ressort für Verteidigung
Im Kreis der Kommissare ist Andrius Kubilius für Verteidigung zuständig - ein neu geschaffenes Ressort, um Rüstungsanstrengungen der Mitgliedsstaaten zu unterstützen und besser zu verzahnen. Damit sind mit der Estin Kallas und dem Litauer Kubilius zwei designierte Kommissionsmitglieder aus baltischen Staaten für Europas Außen- und Verteidigungspolitik verantwortlich.
Die Balten drängen besonders nachdrücklich auf einen harten Kurs gegenüber Moskau. Der Österreicher Magnus Brunner wird sich um die Migrationspolitik kümmern und darum, den im Juni beschlossenen EU-Asylpakt umzusetzen - eine heikle Aufgabe, weil das Thema immer wieder für Streit zwischen den Mitgliedsstaaten sorgt.
Zuletzt hatte Deutschland mit vorübergehenden Grenzkontrollen EU-Nachbarn verstimmt. Das größte Nettoempfängerland in der EU, Polen, bekommt das Haushaltsressort mit Piotr Serafin.
Geschlechterparität verpasst
Der künftigen Kommission gehören elf Frauen und 16 Männer an, das entspricht einem Frauenanteil von 40 Prozent. Von der Leyen konnte sich also nicht mit ihrem Wunsch an die Mitgliedsstaaten durchsetzen, für eine ausgewogene Besetzung zu sorgen.
Die Kommissionschefin versuchte, das auszugleichen, indem sie Frauen mit herausgehobenen Positionen oder wichtigen Portfolios bedachte.
Dass von der Leyen dem ungarischen Kommissarskandidaten Oliver Varhelyi neben dem Bereich Gesundheit auch die Zuständigkeit für das europäische Tierwohl zuwies, sorgt bei manchen EU-Abgeordneten für Heiterkeit. In der amtierenden Kommission ist Varhelyi für Erweiterung zuständig. Er hat sich unbeliebt gemacht, indem er nach dem Hamas-Überfall auf Israel fälschlicherweise die Aussetzung aller Zahlungen an die Palästinenser ankündigte und indem er EU-Abgeordnete bei eingeschaltetem Mikrofon als Idioten titulierte.
Start erst zum Jahreswechsel?
Die designierten Kommissionsmitglieder müssen sich in den kommenden Wochen Anhörungen im EU-Parlament stellen. Die Fachausschüsse prüfen sie auf Tauglichkeit und Befangenheit. Dabei fallen regelmäßig Kandidatinnen oder Kandidaten durch.
Schließlich muss die gesamte Kommission durch das Parlament in einem einzigen Zustimmungsvotum bestätigt werden. Dass die neue Kommission ihre Arbeit wie geplant im November aufnehmen kann, ist deshalb unwahrscheinlich. Einige rechnen sogar damit, dass sie erst zum Jahreswechsel loslegen kann.