Reaktionen auf Junckers Rede Gelobt und kritisiert
"Von allen guten Geistern verlassen" oder "den richtigen Weg gewiesen" - die Reaktionen auf die Rede von EU-Kommissionspräsident Juncker zur Lage der Union sind kontrovers. Wenige Tage vor der Bundestagswahl melden sich vor allem deutsche Politiker zu Wort.
Von heftiger Kritik über Zurückhaltung bis Lob: Für seine Vorschläge zur Zukunft der Europäischen Union erntet EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gemischte Reaktionen.
Die Bundesregierung lobte insgesamt Junckers Ideen. "Wir begrüßen, dass der Kommissionspräsident sich in seiner Rede zur Lage der Union mit wichtigen Fragen der Zukunft und den Prioritäten der Europäischen Union befasst hat", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Einzelne Vorschläge Junckers kommentierte Seibert nicht. Über die Themen müsse auf dem Sondergipfel Ende des Monats in Tallinn und auf dem regulären EU-Gipfel am Oktober in Brüssel gesprochen werden.
Außenminister Sigmar Gabriel sagte: "Jean-Claude Juncker weist den richtigen Weg für die Einheit unseres Kontinents." Dazu seien mehr Integration und Solidarität, mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erforderlich. "Wir dürfen eine Teilung der Europäischen Union in Ost und West, Nord und Süd, in Arm und Reich auf keinen Fall zulassen."
Debatte um den Euro
Eine besondere Kontroverse löste Junckers Forderung aus, in allen Mitgliedstaaten möglichst rasch den Euro einzuführen. Ein Sprecher von Finanzminister Wolfgang Schäuble verwies auf die geltende Grundlage, wonach alle EU-Staaten mit Ausnahme Großbritanniens und Dänemarks langfristig den Euro einführen müssen. Dafür müssten aber bestimmte Kriterien erfüllt sein, das Verfahren sei ein längerer Prozess.
Der Vorschlag sei keine Überraschung, sagte in diesem Zusammenhang auch SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz.
Empört reagierte dagegen die Spitzenkandidatin der Linkspartei, Sahra Wagenknecht: "Juncker scheint von allen guten Geistern verlassen zu sein", sagte die der Nachrichtenagentur dpa. "Bereits jetzt zerstört die Währungsunion in vielen Ländern Industrie und Arbeitsplätze, während sie in Deutschland eine Bedrohung für Sparkonten und Lebensversicherungen ist." Wagenknecht hielt Junckers Vorschlag entgegen, dass etwa Italien seit der Euro-Einführung ein Viertel seiner Industrie verloren habe und Griechenland in der Dauerkrise sei. "Der Euro hat Europa nicht geeint, sondern Ungleichgewichte verstärkt."
Tschechien fordert Beobachterstatus
Ähnlich argumentierte auch die AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel. Sie nannte Junckers Vorstoß grundfalsch und unrealistisch. In den südeuropäischen Ländern blockiere der Euro Wachstum und schaffe Massenarbeitslosigkeit, für Deutschland bedeute die Gemeinschaftswährung "Wohlstandsvernichtung und Haftungsrisiken, welche in die Billionen gehen".
"Herr Juncker verkennt die Lage in den Mitgliedsstaaten der Währungsunion. Noch immer fehlen die wirkliche Durchsetzung der Schuldenregeln und eine Insolvenzordnung", kritisierte FDP-Chef Christian Lindner.
Tschechien - ein Mitgliedsstaat ohne den Euro - reagierte zurückhaltend auf Junckers Vorschlag. "Bis wir diesen Schritt vollziehen, ist für uns entscheidend, dass wir in alle Debatten über das weitere Schicksal der Eurozone einbezogen werden", teilte Ministerpräsident Bohuslav Sobotka mit. Der Sozialdemokrat fordert einen Beobachterstatus bei den Treffen der Finanzminister der Eurogruppe, um eine "Entfremdung" zwischen Euro- und Nicht-Euro-Ländern zu verhindern. "Schritte hin zu einer Vertiefung (der Integration) dürfen nicht zur Entstehung von Parallelinstitutionen führen", warnte er.
Schengen und Einwanderung
Kritik gab es auch an dem Vorschlag, die Schengenzone ohne Grenzkontrollen auszuweiten. "Eine Ausweitung des Schengen-Raums kann es allenfalls nach einer sehr strengen Überprüfung der Beitrittskandidaten geben", sagte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann. "Auf Kosten der Sicherheit der deutschen Bevölkerung darf der Schengen-Raum keinesfalls größer werden", so Herrmann weiter.
Der luxemburgische Grenzort Schengen ist zum Synonym für die Reisefreiheit von mehr als 400 Millionen Menschen in Europa geworden. 1985 unterzeichneten die Regierungschefs von Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten in Schengen eine Vereinbarung über die Abschaffung der Grenzkontrollen zwischen ihren Ländern.
Mittlerweile gehören 23 EU-Mitglieder sowie Norwegen, Island, die Schweiz und Liechtenstein zum Schengen-Raum. Nicht - oder nicht vollständig dabei - sind die EU-Länder Irland, Bulgarien, Rumänien und Zypern.
Bei seiner Forderung nach neuen Vorschlägen für die legale Einwanderung nach Europa und gleichzeitig konsequenterer Abschiebepraxis erhielt der Kommissionspräsident Zustimmung unter anderem aus der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament, zu der Juncker selbst gehört. Man müsse zwar keine "Mauer" um Europa bauen, aber illegale Migration stoppen, sagte Fraktionschef und CSU-Politiker Manfred Weber. Man müsse nicht nur helfen, sondern "mit aller Härte" die Grenzen sichern. Integration bedeute, "dass man unsere Leitkultur, unsere Werte und unsere Gesetze respektiert und praktiziert".
Viele Flüchtlinge starten an der libyschen Küste Richtung Europa - oft in kaum seetüchtigen Booten. (Archivbild)
Es gehe nicht nur darum, illegale Wege zu schließen, sagte der Chef der Sozialisten, Gianni Pittella, man müsse auch legale Einwanderungskanäle schaffen. "Und wir brauchen eine Partnerschaft mit Afrika." Hier sei nicht nur relevant, woher das EU-Geld komme, sondern auch, wem es in Afrika gegeben werde.
"Wir haben diesen schändlichen Deal mit Türkei, jetzt auch mit Libyen - das muss aufhören", kritisierte Patrick Le Hyaric, stellvertretender Chef der Linken-Fraktion im Europaparlament. "Wir brauchen einen Entwicklungspakt mit Afrika."