Ansprache zur "Lage der Union" Juncker sieht EU in "existenzieller Krise"
Schon nach weniger als einer Minute verebbte der Applaus: Begeisterungsstürme hat EU-Kommissionspräsident Juncker mit seiner Rede vor dem Europaparlament nicht erzeugt. Teile der EU befänden sich in einer "existenziellen Krise", sagte er.
Rund eine Stunde dauerte seine Rede, der Applaus verebbte bereits nach weniger als einer Minute: Die mit Spannung erwartete Rede von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat im Europaparlament in Straßburg keine Begeisterungsstürme ausgelöst. Junckers Aufgabe war jedoch auch groß: Schließlich befindet sich die Europäische Union angesichts des Brexit und des Streits um Flüchtlinge in einer ihrer schwierigsten Phasen seit der Gründung. Teile der EU befänden sich in einer "existenziellen Krise", sagte Juncker in seiner Rede.
EU-Kommissionspräsident Juncker bei seiner Rede im Europaparlament
"Mein Vater musste gegen seinen Willen in den Krieg ziehen"
"Ich bin so jung wie das Projekt Europa, das nächstes Jahr 60 Jahre alt wird", sagte der EU-Kommissionspräsident. "Mein Vater musste gegen seinen Willen in den Krieg ziehen. Ich glaube fest an Europa, weil mein Vater mir diese Idee immer vermittelt hat." "Was ist mit unseren Kindern?", rief Juncker den Abgeordneten zu. "Es ist Zeit, dass wir Verantwortung übernehmen. Denn die Geschichte wird sich nicht an uns als Personen erinnern. Aber an unsere Fehler."
EU will Investitionen verstärken
Juncker bemühte sich, diese Worte mit konkreten Plänen zu untermauern. Er kündigte an, dass die EU stärker als bisher gegen Arbeitslosigkeit kämpfen werde. Der milliardenschwere Plan für Investitionen werde ausgeweitet, so Juncker. Die Laufzeit des Fonds werde über 2018 hinaus verlängert und das angestrebte Investitionsvolumen bis 2022 auf bis zu 630 Milliarden Euro verdoppelt.
Stärkerer Grenzschutz
Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini müsse gestärkt werden, so dass sie zur "echten europäischen Außenministerin" wird. "Sie muss an internationalen Verhandlungstischen sitzen, wenn über einen Frieden für Syrien beraten wird." Zudem solle die Europäische Union den Grenzschutz verbessern und auch in militärischen Fragen stärker kooperieren. Ab Oktober würden zusätzlich mindestens 200 Grenzschützer an die Außengrenzen Bulgariens geschickt."Wenn jemand die Grenze übertritt oder verlässt, wird das registriert werden", so Juncker. Am Rande erwähnte Juncker auch, dass es bis 2020 in den Zentren aller europäischen Großstädte freies WLAN geben solle.
EU will 200 zusätzliche Grenzschützer nach Bulgarien schicken.
"Solidarität muss von Herzen kommen"
Juncker warf den EU-Regierungen vor, zu oft nationalen Interessen Vorfahrt einzuräumen und warnte davor, Populisten in die Hand zu spielen. "Populismus löst keine Probleme - im Gegenteil: Populismus schafft Probleme", sagte er.
Insbesondere im Umgang mit der Flüchtlingskrise sei mehr Solidarität nötig. "Man kann sie nicht erzwingen, sie muss von Herzen kommen", betonte Juncker. Er appellierte an die derzeitige slowakische EU-Ratspräsidentschaft, die Verschiedenheiten zwischen denen zu überbrücken, "die widerstrebend sind, Flüchtlinge in ihren Gesellschaften zu integrieren", und denen, die überzeugt seien, dass Flüchtlinge fair auf die EU-Länder verteilt werden müssten.
Deutsche und finnische Soldaten retten Flüchtlinge im Mittelmeer
Wie groß die Solidarität in der EU derzeit tatsächlich noch ist - und ob Juncker mit seiner Rede etwas bewirkt hat - wird sich vermutlich schon in wenigen Tagen zeigen. Denn dann treffen sich 27 EU-Regierungen in Bratislava.